Um den Brexit zu verhindern, wird die EU London gegenüber manches Zugeständnis machen. Nicht alle Sonderstellungen könnten sich jedoch für Großbritannien von Vorteil erweisen.
Das Drehbuch ist schon lange geschrieben. Beim Treffen des Europäischen Rats in Brüssel am 18. und 19. Februar soll es einen Gewinner und 27 Verlierer geben. Die Verlierer wollen es so. Sie versuchen damit zu retten, was noch zu retten ist. Großbritannien soll EU-Mitglied bleiben. Krisen gibt es auch so schon zur Genüge. Die EU-Partner wollen der britischen Regierung entgegenkommen, eine positive Stimmung im Hinblick auf das Referendum über die britische EU-Mitgliedschaft ermöglichen und damit Premierminister Cameron das politische Überleben sichern.
Ob das Verhandlungsergebnis tatsächlich ausreicht, um all diese Ziele zu erreichen, wird man sehen. Letztlich werden aber auch europäische Zugeständnisse auf manch realitätsferne Forderung aus London nicht wesentlich konkreter ausfallen können als jene Kompromisse, die derzeit auf dem Verhandlungstisch liegen.
Der Deal mit dem Vereinigten Königreich ist nämlich vor allem eines: ein Placebo. Ein Versuch, den von London gewünschten britischen Sonderstatus in politischen Willenserklärungen zu untermauern, ohne europäische Grundsätze über Bord zu werfen, oder, wie von Großbritannien gewünscht, weitreichende Reformen zu initiieren, ohne sie jedoch genauer zu definieren,
In dem Vereinbarungsentwurf mit London summiert sich das Ergebnis einer Vielzahl von Scheindebatten über die Definitionshoheit des EU-Vertrags – dies betrifft den weiteren europäischen Integrationsweg, den Bürokratieabbau und abstrakte legislative Einspruchsmöglichkeiten nationaler Parlamente, die Betonung des Binnenmarktes und die Wettbewerbsfähigkeit sowie eine „faire“ Behandlung von EU-Mitgliedern, deren Währung nicht der Euro ist. Der aus britischer Sicht wichtigste und aus europäischer Sicht heikelste Punkt berührt allerdings die sensible Frage der Binnenmigration, der Personenfreizügigkeit und damit das Anrecht von EU-Arbeitnehmern auf Sozialleistungen in Großbritannien.
Schutzmechanismen
Großbritannien, in der Folge auch allen anderen Mitgliedsstaaten, wird zugestanden, in Ausnahmefällen einen Schutzmechanismus beantragen zu können. Beitragsfreie Sozialleistungen sollen für EU-ArbeitnehmerInnen für bis zu vier Jahre begrenzt werden. Auf britischen Antrag, der mit Daten und Zahlen die Ausnahmesituation belegen muss, würde die EU-Kommission initiativ werden und letztlich der Rat der EU entscheiden. Die Maßnahme wäre zeitlich begrenzt, der Zugang zu Sozialleistungen würde in diesem Zeitraum graduell ansteigen.
Tatsächlich ist es aber so, dass die Zahl jener EU-Migranten, die in den ersten Jahren ihres Arbeitslebens Sozialleistungen beziehen, relativ gering ist. Die budgetären Effekte dieser Maßnahme werden sich daher in Grenzen halten. Weiters wird davon ausgegangen, dass die Sozialleistungen das eigentliche Hauptmotiv für die Zuwanderung von EU-BürgerInnen in den britischen Arbeitsmarkt wären. Ebenfalls ein Trugschluss.
Sollten die EU-Mitgliedsländer dem derzeitigen Entwurf in dieser Form zustimmen, stellt sich zudem die Frage, ob der Europäische Gerichtshof ihn nicht als Ungleichbehandlung und Diskriminierung auslegen wird. Ist es das Ziel, die Binnenmigration zu reduzieren und das Sozialbudget zu entlasten, könnten die Ergebnisse letztendlich doch eher bescheidener ausfallen als erwartet und die geplanten Maßnahmen relativ schnell Schiffbruch erleiden.
Übrigens könnte eine etwaige Anpassung der Kinderbeihilfe für EU-Migranten, deren Kinder in einem EU-Land leben, in dem die Lebenserhaltungskosten geringer sind, den vermeintlichen Migrationsdruck Richtung Insel sogar noch erhöhen, anstatt die Sozialausgaben massiv zu reduzieren. Aber darum geht es in Wirklichkeit in dieser aufgeheizten Debatte gar nicht mehr. Und all das wird man sowieso erst lang nach dem abgehaltenen Referendum über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens faktisch belegen können.
Entscheidend scheint vielmehr, dass man in dieser Runde als Gewinner nach Hause fährt. Womöglich zu kurz gedacht, Herr Premierminister. Die Geister, die Sie riefen, die werden Sie so schnell nicht mehr los.
Paul Schmidt – Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik, 06.02.2016
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