Die EU-Migrationspolitik braucht Fakten statt Emotionen (Gastkommentar Wiener Zeitung)

Wäre das Interesse an einer gemeinsamen Lösung ebenso groß wie an dem Problem, dann wären wir schon einen großen Schritt weiter.

Angesichts so mancher innenpolitischen Diskussion vergessen wir hie und da, welche Attraktivität unser europäisches Lebensmodell weltweit besitzt. Die Wertschätzung der Grundrechte, soziale Sicherheit, wirtschaftliche Stabilität und Frieden in der Europäischen Union sind Errungenschaften, um die uns offenbar viele Menschen rund um den Globus beneiden. Europa als der reichste und sicherste Kontinent der Welt wird daher auf lange Sicht Ziel von Migration sein. Im vergangenen Jahr wurden EU-weit mehr als 900.000 Asylsuchende verzeichnet, dazu kamen etwa vier Millionen Menschen aus der Ukraine, die bei uns Schutz gesucht und gefunden haben. Auch die ebenso demokratischen wie wohlhabenden USA sind das Ziel von Flüchtlingen. Migrationsbewegungen in Richtung China oder gar Russland sind dagegen nicht festzustellen.

Migration stellt für einen sicheren, freien und reichen Kontinent wie Europa eine große Herausforderung dar. Um eine von allen getragene Migrations- und Asylstrategie wird daher seit Jahren immer wieder zwischen den demokratischen Kräften gerungen. Zugleich polarisiert das Thema, verursacht Sorgen und wird daher regelmäßig auch zur populistischen Stimmungsmache missbraucht. Wäre das Interesse an einer gemeinsamen Lösung ebenso groß wie an dem Problem, dann wären wir schon einen großen Schritt weiter.

Zu wenig Mut für konkrete Initiativen

Das Thema Migration wird jedoch allzu oft wie eine heiße Kartoffel behandelt, zu wenige haben den Mut, es mit konkreten Initiativen anzupacken. Verantwortung wird abgeschoben, eine gemeinsame EU-Asyl- und Migrationspolitik – mit einer veritablen Hilfe vor Ort, legalen Wegen nach Europa, sicheren Außengrenzen und fairer Lastenverteilung – will noch nicht gelingen. Diejenigen, die dabei am lautesten gegen “Brüssel” wettern, verschärfen die Lage nur, indem sie das Problem verlagern und Asylsuchende in andere Mitgliedstaaten weiterleiten. Es muss daher rasch gegengesteuert werden. Versuchen wir, Fakten statt Emotion sprechen zu lassen und uns der Frage mit einem koordinierten und solidarischen Ansatz zu nähern.

Die Eckpfeiler für eine konstruktive Debatte sollten rasch eingeschlagen sein: Null-Migration ist ebenso illusorisch wie grenzenloser Zuzug. Europa ist ein alternder Kontinent, der Mangel an Arbeitskräften in manchen Bereichen eklatant. Um unseren Wohlstand zu erhalten, ist es im ureigenen Interesse Europas, Zuwanderung zu ordnen, zu steuern und gezielt zu fördern. Dafür braucht es klare Spielregeln, wer zu uns kommen kann und unter welchen Voraussetzungen. Sichere EU-Außengrenzen sind notwendig. Dabei sind Zäune und Befestigungen zwar ein Teil, aber auch nicht die Master-Lösung.

Das sieht man daran, dass im Jahr 2022 rund 330.000 irreguläre Grenzübertritte in die EU verzeichnet wurden, während es in den USA zwei Millionen waren – und das bei einer sehr viel kürzeren Außengrenze, an der noch dazu die 1.700 Kilometer lange “Trump-Mauer” steht. Die EU muss daher zwar Außengrenzen absichern, auch mit technischer und physischer Infrastruktur, wo dies praktikabel ist, zugleich aber ihren eigenen Werten verpflichtet bleiben: Rechtssicherheit und Solidarität müssen auch in diesem Bereich unsere oberste Maxime sein. Eine “Festung Europa” wäre dagegen sowohl eine moralische als auch eine wirtschaftliche Bankrotterklärung eines Kontinents, der davon lebt, mit dem Rest der Welt verbunden und vernetzt zu sein.

Beim Thema Migration ist die EU alles andere als untätig

Entgegen den hierzulande gelegentlich geäußerten Vorwürfen ist die Europäische Union beim Thema Migration alles andere als untätig: Die EU-Kommission hat umfassende Gesetzesvorschläge gemacht, die in aktueller Form seit 2020 auf dem Tisch aller Mitgliedstaaten liegen. Diese sollten nun rasch beschlossen und vollständig umgesetzt werden. Bei einigen wichtigen Initiativen ist dies bereits gelungen: Eine neue EU-Asylagentur wird dazu beitragen, dass Asylentscheidungen rasch und fair getroffen und die Aufnahmestandards EU-weit angeglichen werden. Auch die Überarbeitung der “Blauen Karte” – sprich: der Regeln für die Einreise und den Aufenthalt hochqualifizierter Arbeitnehmer von außerhalb der EU – ist bereits abgeschlossen.

Konsens gibt es auch im Hinblick auf die Aufnahmebedingungen und den Rahmen für das Resettlement von anerkannten Flüchtlingen aus Drittstaaten. Auch beim Grenzschutz tut sich viel: Nicht nur stehen zusätzlich zu rund 100.000 nationalen Grenzschützern heute auch 2.500 EU-Grenzbeamte an den Außengrenzen und schützen Land- wie Seegrenzen vor irregulären Einreisen. Mit dem erweiterten Schengener Informationssystem sind außerdem heute die Grenz-, Einwanderungs-, Polizei-, Zoll- und Justizbehörden in der EU und den assoziierten Schengen-Ländern wie der Schweiz miteinander vernetzt.

Das ermöglicht effektivere Kontrollen an den Außengrenzen und verbessert die Strafverfolgung und justizielle Zusammenarbeit in Europa. Und ab 2024 wird das Europäische Reiseinformations- und -genehmigungssystem ETIAS Vorabinformationen liefern, bevor Reisende die EU-Grenzen erreichen. Egal, ob aus Costa Rica, Japan oder Argentinien: Wer visumfrei in die EU möchte, muss im Vorfeld ein elektronisches Formular ausfüllen – ähnlich wie es für die USA üblich ist. Auch wir wissen also dann genau, wer sich wie lange in Europa zu welchem Zweck aufhält.

Mehr Sicherheit durch eine Schengen-Erweiterung

Es ist also einiges im Fluss. Und ein Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien würde unsere Sicherheit weiter erhöhen, denn dann würde die Außengrenze dieser Länder als gemeinsame EU-Grenze gesehen – und entsprechend geschützt. Ein praktisches Beispiel: Als Kroatien dem Schengen-Raum beitrat, konnten 700 slowenische Grenzschützer, die an der Grenze zu Kroatien tätig waren, an die neue Außengrenze entsandt werden. Wie wäre es eigentlich, wenn Deutschland und Österreich ihre Grenzschützer von den Binnengrenzen abziehen und an den Außengrenzen einsetzen würden? Und wie wäre es, wenn Österreich in seiner Rolle als “Brückenbauer” Ungarn davon überzeugen könnte, die europäischen Asylregeln einzuhalten, wie es der Europäische Gerichtshof auf Klage der EU-Kommission gefordert hat, und in der Folge Asylwerber nicht länger einfach an die österreichische Grenze durchzuwinken?

Ein effizientes Management der EU-Außengrenzen beginnt weit vor unserer Haustüre. Entweder wir exportieren Stabilität oder importieren Instabilität. Die EU und ihre Mitgliedsländer haben es in der Hand, ein stärkeres internationales Engagement zur Krisenbewältigung vor Ort, humanitäre Hilfestellung sowie strategische Partnerschaften und Investitionen zu ermöglichen und damit beizutragen, die Lage in den Herkunftsländern nachhaltig zu verbessern und Migration zu managen.