Die EU-Erweiterung – ein geopolitischer Imperativ (Gastkommentar Wiener Zeitung)

Die Aufnahme in die EU bringt wie eine Ehe zahlreiche gegenseitige Rechte und Pflichten.

Je anspruchsvoller der Berg, desto wichtiger sind die richtige Teamgröße sowie Kondition und Kooperationsbereitschaft der Expeditionsteilnehmer. In Anlehnung daran geht in Europa die Sorge um, bei einer abermaligen Erweiterungsrunde werde die Europäische Union schwerfällig und auf lange Zeit in den Mühen der Ebene verharren. Zu Recht?

Fast genau zehn Jahre ist es her, dass zuletzt ein Staat der EU beigetreten ist: Kroatien am 1. Juli 2013. Seitdem gab es zwar Verhandlungen mit Beitrittswerbern, aber der Weg war ein steiniger. Nun hat Wladimir Putins brutaler Angriffskrieg gegen die Ukraine den EU-Erweiterungsprozess wieder in den Fokus gerückt. Die Ukraine kämpft mit unglaublichem Mut gegen Putins Aggression und für europäische Werte. Das Land, das seit 2014 durch ein Assoziierungsabkommen eng mit der EU verbunden ist, hat im Juni 2022 den Kandidatenstatus erhalten – ebenso wie die Republik Moldau und, im Dezember 2022, Bosnien und Herzegowina. Auch die EU-Beitrittsperspektive für Georgien und die Visaliberalisierung mit dem Kosovo sind im Lichte der neuen Dynamik zu sehen. Es ist anzunehmen, dass sich diese auch auf die langjährigen EU-Kandidatenländer am Westbalkan – Albanien, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien – auswirkt.

Es gibt keine Abkürzung auf dem Weg in die EU. Die Erfüllung der wirtschaftlichen und demokratischen Kriterien sowie Rechtsstaatlichkeit sind Voraussetzungen für einen Beitritt. Schließlich ist die EU kein Golfclub, in den man sich eben einmal einschreibt. Die Aufnahme in die EU ist vielmehr mit einer Ehe vergleichbar – sie bringt zahlreiche gegenseitige Rechte und Pflichten. Darum prüfe, wer sich ewig bindet. Mit gutem Grund erstrecken sich die 35 Kapitel umfassenden Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und einem Mitgliedsland in spe über mehrere Jahre.

Überschätzte Folgen der Einstimmigkeit

Aber nicht nur die Beitrittsländer, auch die EU müsse sich von Grund auf reformieren, um erweiterungsfit zu werden, lautet die Forderung aus etlichen EU-Hauptstädten. Ansonsten drohe eine institutionelle Lähmung. Ein argumentativer Fixstarter ist in diesem Kontext das Einstimmigkeitsprinzip. Es ist Faktum, dass ein einzelner Staat in bestimmten, wenigen Bereichen Beschlüsse innerhalb der EU blockieren kann. Allerdings passiert das viel seltener, als es die intensive öffentliche Debatte über das Thema impliziert. Bereits jetzt werden 90 Prozent der Entscheidungen in der EU mehrstimmig getroffen. Und dank der sogenannten Passerelle-Klausel im Vertrag von Lissabon können die EU-Staaten jederzeit beschließen, in Bereichen, wo jetzt noch Einstimmigkeit gilt, künftig mit Mehrstimmigkeit zu entscheiden – mit Ausnahme der Sicherheitspolitik. Fazit: Um nationalen Vetomöglichkeiten bei Steuerfragen und beim mehrjährigen Finanzrahmen ein Ende zu setzen, braucht es keine langwierigen internen Reformen – sondern lediglich einen gemeinsamen politischen Willen zur Änderung der Beschlussfassung.

Auch das Prinzip “ein Land, ein Kommissar” ist nicht in Stein gemeißelt, im Gegenteil: Laut EU-Vertrag umfasst die EU-Kommission eigentlich 18 Kommissare, sofern der Europäische Rat nichts anderes einstimmig beschließt. Das hat er getan, zuletzt für die Amtsperiode 2019 bis 2024. Daher hat das EU-Kommissarskollegium derzeit 27 Mitglieder. Wie viele Kommissare in der nächsten Amtsperiode ab 2025 an der Spitze des EU-Exekutivorgans tätig sein werden, hängt also von den Präferenzen der EU-Mitgliedstaaten ab.

Struktur des EU-Budgets im Fokus

Die wahre Herausforderung im Hinblick auf künftige Erweiterungen ist vielmehr eine finanzielle – und hängt mit der Struktur des EU-Haushalts zusammen: Nach wie vor fließt ein Drittel des EU-Budgets in die Gemeinsame Agrarpolitik. Im aktuellen Finanzrahmen 2021 bis 2027 sind 385 Milliarden der insgesamt 1,2 Billionen Euro für die Landwirtschaft reserviert, die in der EUrund 1,6 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) beiträgt. Zum Vergleich: In der Ukraine und der Republik Moldau entfallen mehr als 10 Prozent des BIP auf die Landwirtschaft, in Albanien sogar 18 Prozent. Was das für den EU-Haushalt bedeutet, liegt auf der Hand.

Der Erweiterungsprozess erhöht die Dringlichkeit einer tiefgreifenden Debatte darüber, wohin gemeinsame Euro fließen sollen und in welchen Bereichen sie den meisten Mehrwert bringen. Derzeit ist der grüne und digitale Wandel hoch im Kurs: So hat die EU infolge der Corona-Pandemie das 800 Milliarden Euro schwere EU-Aufbauinstrument “NextGenerationEU” auf die Beine gestellt, das durch gemeinsame Anleihen finanziert wird.

Geschichte zeigt, wie’s geht

Die Erweiterung der EU ist ein geopolitischer Imperativ. Es ist wahrscheinlich, dass die Union in einem Jahrzehnt mehr als 30 Mitglieder haben wird – und es ist mit ausreichend politischem Willen machbar. Das zeigt auch ein Blick in die jüngere Vergangenheit: Die Osterweiterung 2004 und 2007 um insgesamt zwölf Staaten hat die EU politisch und wirtschaftlich dynamisiert. Sie war ein Wachstumsturbo, der allein Österreich ein zusätzliches BIP-Plus von 0,4 Prozentpunkten und rund 8.000 Arbeitsplätze jährlich gebracht hat. Weitere Beitritte der Ukraine, der Republik Moldau und des Westbalkans könnten – wenn richtig vorbereitet und von beiden Seiten engagiert vorangetrieben – Europa nicht nur größer, sondern auch stärker machen. Und das ist wichtiger denn je.

EU-Gipfeltour

“Kann die EU sich erweitern und gleichzeitig effektiver werden?” Dieser Frage gehen Martin Selmayr und Paul Schmidt am 8. März auf der Rax bei einer EU-Gipfeltour nach. Bürgerinnen und Bürger sind herzlich zum Mitwandern eingeladen. Treffpunkt ist um 10 Uhr vor der Rax-Seilbahn. Details: https://europa.eu/!FkkNpT

Die EU-Gipfeltouren finden in allen Bundesländern statt, um über Europa ins Gespräch zu kommen. Infos: https://europa.eu/!xDbC3T