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Das Superwahljahr sollte ein Wettstreit der Ideen in der EU sein (Gastkommentar Der Standard, 25.2.2024)

Allein können Nationalstaaten den großen Herausforderungen unserer Zeit schon lange nicht mehr auf Augenhöhe begegnen. Österreich muss sich stärker einbringen.

Die EU ist nicht immer effizient, alles andere als perfekt, sagt Paul Schmidt. In Zeiten großer Umbrüche muss sie sich weiterentwickeln, um zu bestehen, schreibt der Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik in seinem Gastkommentar. Dafür müsse geworben werden.

Vor 30 Jahren, am 12. Juni 1994, haben sich zwei Drittel der Österreicherinnen und Österreicher für den Beitritt zur Europäischen Union entschieden. Die gemeinsamen Anstrengungen, Österreich ein Stück weiter ins Zentrum Europas zu rücken, waren enorm. Die hohe Wahlbeteiligung, sie lag damals über 80 Prozent, war Ausdruck der Wichtigkeit dieser Entscheidung. Obwohl Kritik an der Union, die nicht selten als Blitzableiter fungieren muss, zwischen Neusiedler und Bodensee weitverbreitet ist, stehen damals wie heute zwei Drittel der Bevölkerung fest hinter der EU-Mitgliedschaft.

Drängende Fragen

Heute ist es die Frage des Wie und nicht des Ob, die die Menschen bewegt. Wie muss die Europäische Union aufgestellt sein, um den hohen Ansprüchen an sie gerecht zu werden und konkrete Probleme lösen zu können? Wie kann sie im Zusammenspiel ihrer Mitglieder handlungsfähiger werden? Und in welche Richtung soll sich die Union weiterentwickeln?

Darauf Antworten zu finden wird immer drängender, denn auch das aktuelle Umfeld wird spürbar komplexer: Der russische Krieg gegen die Ukraine bringt seit mittlerweile zwei Jahren enormes Leid und Zerstörung in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, fordert unsere Solidarität und stellt die europäische Sicherheitsordnung auf den Kopf. Der eskalierende Endloskonflikt im Nahen Osten zeigt die dringende Notwendigkeit auf, klare Positionen zu finden und durchzusetzen sowie wachsenden Antisemitismus auf allen Ebenen zu bekämpfen. Der Klimawandel zwingt zu raschem und weitreichendem Handeln, während die EU ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit erhalten und Abhängigkeiten reduzieren will. Ein effizienter Umgang mit Migration und dem Schutz der Außengrenzen verlangt nach einer gemeinsamen und ganzheitlichen Asyl- und Migrationspolitik. Der Erweiterungs- und Reformprozess erfährt neue Dynamik, kratzt aber noch an der Oberfläche. Die Einflussnahme externer Akteure wird offensiver, Rechtsstaatlichkeit und demokratische Grundwerte geraten unter Druck. Nach wie vor gilt es, die richtigen Lehren aus der Corona-Pandemie zu ziehen. Und schließlich reicht es nicht, die demografische Entwicklung und die Veränderungen in der Arbeitswelt nur zu beobachten, beides gilt es zu gestalten.

Maue Vorzeichen

All diese Themen anzugehen verlangt eine immense Kraftanstrengung und konzertiertes Handeln. Doch die Vorzeichen sind eher mau. 2024 ist mit 70 Wahlen weltweit ein Superwahljahr. Gerade die Entscheidung ums Weiße Haus könnte dabei für Europa mit weitreichenden Folgen verbunden sein: Wird die transatlantische Partnerschaft in der bisherigen Form weiter bestehen, wie konkret die US-Unterstützung der Ukraine letztlich aussehen?

Aber auch der Ausgang der Europawahlen im Juni ist diesmal entscheidender denn je. Eine Stärkung europaskeptischer Stimmen könnte die Suche nach lösungsorientierten Mehrheiten erschweren und eine Kakophonie kurzsichtiger Einzelinteressen weitere Integrationsschritte blockieren. Ob sie aber will oder nicht, ob sie schon bereit ist oder nicht, die externe Dynamik fordert die EU, ihr liberales, demokratisches Gesellschaftssystem krisenfest zu machen, sich international zu emanzipieren und gleichzeitig ihrer Bevölkerung insgesamt ein überzeugendes Angebot zu legen. In Zeiten großer Umbrüche muss sie sich verändern, um zu bestehen. Muss sich reformieren, um sich erfolgreich erweitern zu können. Dafür muss geworben und darüber muss diskutiert werden.

Stärkeres Engagement

Welchen Beitrag und Mehrwert kann und soll Österreich dabei leisten? EU-Expertinnen und -Experten widmen sich bevorzugt der Frage, wie sich die EU neu aufstellen sollte, und zu selten, wie sich einzelne Mitgliedsstaaten einbringen könnten, um die europäische Zusammenarbeit zu verbessern. Verkannt wird dabei, dass die 27 EU-Länder im Zentrum der europäischen Entscheidungsfindung stehen. Ohne ihr Zutun, ohne ihren Einsatz, herrscht Stillstand.

In einer Zeit, in der sich die Fragilität einzelner Nationalstaaten immer mehr akzentuiert, ist auch Österreich gefordert, sich europäisch stärker zu engagieren. Wenn sich die Welt weiterdreht, kann bei uns nicht alles beim selben bleiben. Es reicht nicht, lediglich Beobachter zu sein oder sich in einer selbst errichteten Festung verschanzen zu wollen. Ebenso wenig hilft es, gegen internationale Organisationen zu wettern und sich in Verschwörungstheorien zu verlaufen. Für “alternative Fakten” und emotional aufgeladene Nebenschauplätze ohne realen Gehalt ist die Lage viel zu ernst.

Offener Ideenwettstreit

Als EU-Mitglied hat Österreich jede Möglichkeit, das Wirken der Union mit guten Argumenten und Lösungsvorschlägen zu beeinflussen. Es sind solche Gelegenheiten, die verstärkt genützt werden sollten, indem man sich vorausschauend und konstruktiv einbringt. Dafür braucht es, neben ausreichend Ressourcen, vor allem innovative Ideen und eine potenzielle Neudefinition unserer kurz-, mittel- und langfristigen europapolitischen Schwerpunkte. Statt so mancher Ablehnung, Zögerlichkeit und Ängstlichkeit einen optimistischen und mutigen, Chancen und Perspektiven betonenden, alle Teile der Gesellschaft umfassenden Ideenwettstreit. Eine politische Führung, die diesen nicht nur zulässt, sondern dazu einlädt, die den Meinungspluralismus fördert, praktikable Vorschläge sucht und sich nicht in falsch verstandener Zurückhaltung übt.

“Die europäische Zusammenarbeit ist wichtiger denn je.”

Die verbleibenden Monate bis zu den Wahlen zum Europäischen Parlament bieten sich dafür an, einen produktiven Wettstreit um die besten Ideen zur Zukunftsgestaltung Europas zu starten. Die Parlamentsparteien haben die Spitzen ihrer Wahllisten besetzt, jetzt könnte es ruhig auch einmal um Inhalte gehen. Voraussetzung dafür wäre es, die Europawahlen nicht mehr als “Wahlen zweiter Ordnung” schlechtzureden. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade in Krisenzeiten ist die europäische Zusammenarbeit wichtiger denn je, und – was oft unterschätzt wird – Europa findet letztlich auf die großen Fragen unserer Zeit auch eine Antwort. Zwar manchmal nach langem Hin und Her, mit mehr oder weniger Unterstützung bedacht und mit so manchem Kompromiss, aber dennoch entschiedener und rascher als von vielen vermutet.

Die Europäische Union ist kein Nebenthema, der Ausgang der Europawahlen alles andere als egal – zu bedeutend ist heute die Rolle des EU-Parlaments im Gesetzgebungsprozess. Für eine gute und sichere Zukunft braucht es politischen Mut und die besten Konzepte – und dafür auch ein aktives, europäisches Österreich, das seinen Beitrag leistet.

(Paul Schmidt, Der Standard 25.2.2024)