Das Europa von morgen (Gastkommentar Wiener Zeitung)

Gerade in Krisenzeiten ist die EU mit einer bemerkenswerten Handlungsfähigkeit besser als ihr Ruf.

Die Europäische Union ist eine Kompromissfindungsmaschine, deren Entscheidungsabläufe nicht unbedingt einfach sind und die dafür auch gerne kritisiert wird. Dennoch stellt die EU mit ihren 27 Mitgliedern gerade in Krisenzeiten eine bemerkenswerte Handlungsfähigkeit unter Beweis und ist dabei besser als ihr Ruf. Vom Impfstoffeinkauf über EU-Konjunkturprogramme, Sanktionspakete, Pläne zum gemeinsamen Einkauf von Energieträgern und militärische Beschaffung bis zu Wirtschaftshilfen für die Ukraine oder humanitärem Engagement – die EU zeigt sich robuster als von vielen erwartet.

Dass es bei der steten Suche nach Konsens zwischen den unterschiedlich betroffenen Ländern zu finden, regelmäßig knirscht und kracht, ärgert zwar, sollte aber bei der Tragweite der Entscheidungen auch nicht überraschen. Die öffentliche Meinung goutiert jedenfalls eine ergebnisorientierte Europapolitik, die sich nicht am kleinsten gemeinsamen Nenner orientiert. Etliche der aktuellen Beschlüsse schaffen vielmehr Tatsachen, die gerade auch im Hinblick auf ihre Wirkung gut überlegt sein sollten. Vor diesem Hintergrund ist der Zusammenhalt der EU-Länder wichtiger denn je, aber kann er auch von Dauer sein?

Die europäische Ambition ist hoch, die Erwartungshaltung steigt. Immer öfter geht es ans Eingemachte. Egal, ob es sich um Verteidigungs-, Energie- oder Außenpolitik handelt, die Lebensmittelsicherheit oder den Kampf gegen Inflation. Die EU steht daher vor einer einschneidenden Standortbestimmung. Entweder die Entscheidungsfreude bleibt irgendwann auf der Strecke, um den Konsens der 27 nicht zu gefährden, oder aber die verstärkte Zusammenarbeit der integrationsfreudigeren Länder, bei der nicht mehr auf alle Partikularinteressen Rücksicht genommen wird, setzt sich durch. Mehrheitsentscheidungen würden zwar dabei helfen, Pattsituationen zu überwinden und eine andere Diskussionsdynamik zu entfalten, aber das magische Rezept, mit dem nationalen Begehrlichkeiten der Wind aus den Segeln genommen werden kann, sind sie auch nicht.

Die Zeiten individueller Blockaden sollten jedenfalls seit dem 24. Februar Geschichte sein. Findet sich eine kritische Masse an Mitgliedstaaten, sollten diese – ähnlich wie bei Euro, Schengen oder europäischer Staatsanwaltschaft – vorangehen, ohne von einzelnen eingebremst zu werden. Ein Modell also mit unterschiedlichen Integrationsstufen und Geschwindigkeiten, das nicht zuletzt dem geostrategischen Konföderationsplan des französischen Staatspräsidenten entsprechen und darüber hinaus auch Nicht-Mitgliedern und Beitrittskandidaten eine raschere Teilnahme an essenziellen Politikbereichen ermöglichen würde. Dies wäre zwar kein Ersatz für etwaige EU-Erweiterungsrunden, aber ein Schritt, um die europäische Zusammenarbeit inklusiver und flexibler zu gestalten und zugleich ihren Kern zu stärken.

Angesichts zunehmender geopolitischer Konfliktlinien sollte ein resilientes Europa mit klarem Wertekompass und effizienten Entscheidungsstrukturen jedenfalls allen ein Anliegen sein.