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Casus Belli Schottland (Gastkommentar Paul Schmidt, Wiener Zeitung)

Die EU könnte das schottische Referendum auch als Chance verstehen.

Am Donnerstag haben rund vier Millionen Schotten die Möglichkeit, über die Unabhängigkeit ihres Landes abzustimmen. Der Ausgang des Referendums ist offen, aber eines steht bereits jetzt fest: Die Europäische Union muss sich weit intensiver als bisher mit regionalen Selbstbestimmungstendenzen und deren Auswirkungen beschäftigen – denn weitere Referenden, wie etwa jenes in Katalonien im November, werden folgen.

Die regionalen Unabhängigkeitsbestrebungen sind per se nicht “antieuropäisch”. Im Gegenteil: Die neue Selbständigkeit richtet sich zumeist gegen einen als bevormundend empfundenen Zentralstaat und soll sich unter dem Schutzschirm der EU vollziehen. Nur als Teil der EU kann letztlich die – wirtschaftliche – Überlebensfähigkeit des kleineren Landes sichergestellt werden. Spaltet sich Schottland jedoch tatsächlich vom Vereinigten Königreich ab, wäre die EU erstmals in ihrer Geschichte mit der Teilung eines Mitgliedslandes konfrontiert. Ein Präzedenzfall: Denn eine vertraglich festgelegte Abkürzung oder gar einen Automatismus für einen EU-Beitritt gibt es – bisher – nicht. Schottland müsste, wie jedes andere Beitrittsland, um die EU-Mitgliedschaft ansuchen.

Sämtliche Opt-outs, die Großbritannien noch für sich geltend machen konnte, wie etwa die Nichtteilnahme an Schengen und Euro, Rabatte oder auch Sonderregelungen im Bereich Inneres und Justiz, wären für das potenzielle Neu-Mitglied hinfällig. Zur Euro-Einführung wäre Schottland selbstverständlich vertraglich verpflichtet.

Und noch weitere Hürden täten sich vor einem EU-Beitritt auf: Sowohl die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen als auch der Beitritt selbst müssten von den Mitgliedstaaten einstimmig befürwortet werden. Ein aus heutiger Sicht schwieriges Unterfangen, da Länder wie Spanien, Rumänien oder die Slowakei aus Sorge vor separatistischen Bewegungen zu Hause auch dem Kosovo die Anerkennung versagten. Zudem hat der künftige Kommissionschef Jean-Claude Juncker die Aufnahme weiterer Länder in den nächsten fünf Jahren ausgeschlossen.

Der Weg in die Unabhängigkeit Schottlands und ein EU-Beitrittsprozess würden folglich etliche Jahre dauern. Die wirtschaftliche und sozialpolitische Lage des Landes könnte in dieser Übergangsphase unter erheblichen Druck geraten. Auch das in der EU verbleibende “Rest-Britannien” müsste sich auf finanzielle Einbußen und institutionelle Veränderungen einstellen: Die Frage des Briten-Rabatts würde sich etwa neu stellen, die Anzahl der Abgeordneten im EU-Parlament und der Stimmanteil im Rat der EU würden sinken.

Die aktuellen Unabhängigkeitstendenzen und deren Konsequenzen gehen mit dem Referendum in Schottland in eine neue Runde. Für die europäische Integration könnte eine zunehmende “Regionalisierung” durch neue Mitglieder aber auch zu einer Chance für mehr Vielfalt und Bürgernähe werden. Allerdings müsste sich die EU in der Folge institutionell neu aufstellen. Denn eine Union mit mehr als 30 Mitgliedern kann nur funktionieren, wenn die europäische Ebene wesentlich mehr an Kompetenzen erhält, um eine effiziente und funktionierende Entscheidungsfindung gewährleisten zu können.