Von Vedran Džihić und Paul Schmidt
Um die Erweiterung der Union voranzubringen, muss diese sich erst einmal intern zu Reformen durchringen. Aber gibt es die politische Kraft und den Willen dazu überhaupt?
Lange Zeit schien es, als ob das einst strahlende Projekt der EU-Erweiterung seine Wirkmacht verloren und es sich auf dem politischen Abstellgleis der Union richtig gemütlich gemacht hatte. Absichtserklärungen wurden in Sonntagsreden gebetsmühlenartig wiederholt. Die EU tat so, als ob sie sich erweitern wolle, die Westbalkanstaaten gaben vor, sich zu reformieren, de facto bewegt sich aber niemand vom Fleck.
Mit dem russischen Aggressionskrieg in der Ukraine kam eine drastische Zäsur für ganz Europa, auch und gerade in der Frage der Erweiterung der Union. Die Dynamik ist damit zurück und das Zeitfenster weit offen, um das Erweiterungsprojekt voranzutreiben. Während die Debatte an Geschwindigkeit und Substanz gewinnt, sind wir erst vor wenigen Tagen auf dem Westbalkan nur knapp an einem bewaffneten Konflikt vorbeigeschrammt, und zwar durch eine militärische Provokation des offiziellen EU-Kandidatenlandes Serbien.
Serbien als Mahnung
Im Jänner 2024 werden es genau zehn Jahre sein, seitdem Belgrad offiziell über eine EU-Mitgliedschaft verhandelt. Paradoxerweise ist das Land unter der Herrschaft von Aleksandar Vučić zu einem der sich am stärksten autokratisierten Staaten weltweit geworden. Das heutige Serbien kann fast als Mahnung gesehen werden, was passieren kann, wenn man jahrelang lauwarm miteinander umgeht und weder die EU noch das Kandidatenland den Verhandlungsprozess ernst nehmen.
Osteuropa-Experte Ivan Krastev, einer der scharfzüngigsten Analysten europäischer Realitäten, meinte unlängst in Bezug auf die EU und wohl auf auch deren Erweiterung, dass es für Europa eben nicht ausreicht, nur aufzuwachen. Man müsse, sagt Krastev, auch aus dem Bett kommen und den politischen Wind nutzen. Dieser kann sich nämlich – vor dem Hintergrund des massiven Aufstiegs europäischer Nationalisten oder gar des etwaigen Comebacks von Donald Trump – schneller drehen, als man glaubt.
Was gilt es nun zu tun? Zuerst muss die EU mit sich selbst ins Reine kommen und sich zu mühsamen und weitgehenden internen Reformen durchringen. Da reicht das Spiel mit Jahreszahlen, wie unlängst von Ratspräsident Charles Michel gespielt, bei weitem nicht aus.
Ja, die politische Dynamik treibt die Union in großen Schritten Richtung Erweiterung. Ein geopolitischer Imperativ, wie stets betont wird. Allerdings liegt auch hier der Teufel im Detail und eine Erweiterung ist eben letztlich nicht ausschließlich eine außen- und sicherheitspolitische, sondern ebenso eine wirtschafts-, finanz- und auch sozialpolitische Angelegenheit. Das ist auch der Grund, warum die EU-Kommission vorschlägt, nun jeden Politikbereich einem Erweiterungsstresstest zu unterziehen. Und warum auch die Beitrittskandidaten in das jährliche Monitoring über den Stand der Rechtsstaatlichkeit in der EU rasch integriert werden sollen.
Ärmste Länder
Institutionelle Fragen sind in diesem Rahmen noch die leichtere Übung. Aber die Größenordnung einer Erweiterung um weitere neun Länder, und vor allem um die aktuell ums Überleben kämpfende Ukraine, ist mit nichts vergleichbar. Neben der besonderen sicherheitspolitischen Dimension sind auch die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den EU-27 und den aktuellen Beitrittskandidatenländern, von de-nen neun Länder zu den ärmsten zehn Europas gehören, enorm. Daher wird es etwa bei Wettbewerbsfragen oder auch der zukünftigen Finanzierung der EU schon wesentlich komplizierter.
In den Kandidatenländern wie-derum gilt es den Kreis der direkten Ansprechpartner der EU zu vergrößern. Eine engere Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und den vielen proeuropäischen Basisbewegungen würde den Demokratisierungsprozessen guttun. Das Vorziehen von wirtschaftlichen Förderprogrammen oder die frühzeitige Integration in den gemeinsamen Binnenmarkt könnte dazu beitragen, die Lebenssituation vor Ort zu verbessern und den Menschen Perspektive zu geben.
Entscheidend ist dabei, sich gerade auch der nächsten Generation zu widmen. Diese gilt es für das europäische Projekt ganz besonders zu begeistern. Denn letztlich sind sie es, die die demokratiepolitischen Reformen leben müssen und mit ihrem Engagement dazu beitragen, die politische Vereinnahmung der Länder durch Partikularinteressen der oft korrupten politischen Eliten zu verhindern.
Europäische Ambitionen müssen ernst gemeint sein. Einer Schaukelpolitik zwischen Moskau, Peking und Brüssel, wie sie etwa Serbien vollführt, oder einer Regierung, die wie in Georgien mit russischer Unterstützung liebäugelt, muss eine klare Antwort der EU gegenübergestellt werden – hinter der Erweiterungsidee stehen europäische Werte, MenschenrechtsStandards, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit, und diese gelten für alle, auch für Kandidatenländer.
Um den Erweiterungsprozess voranzubringen, braucht es neue Spielregeln, die die Funktionsweise der EU auf stabile Beine stellen und die Union fit für Erweiterung machen. Gibt es die politische Kraft und den Willen in allen Hauptstädten, diesen Weg tatsächlich zu gehen? In den nächsten Monaten wird sich zeigen, ob Europa Realpolitik und vor allem Realgeopolitik kann. Die Erweiterung würde die Union so nachhaltig verändern, wie es vielleicht vorher nur die deutsche Einigung oder die Integration Mittel- und Osteuropas gemacht haben. Der Westbalkan ist dabei das erste Exerzierfeld des Machbaren. Wenn es dort, wo die EU bereits so viel investiert hat, nicht gelingen mag, wird es woanders nur noch schwieriger.