EU-Spitzenkandidaten: Nur für Feinspitze? (Gastkommentar Paul Schmidt, Kurier)

Das Europäische Parlament möchte bei den Europa-Wahlen nächstes Jahr das bereits 2014 eingeführte System europaweiter Spitzenkandidaten wiederholen. Auf Basis des Wahlergebnisses möchte die Mehrheit der EU-Abgeordneten wieder einen, von den europäischen Parteienfamilien ins Rennen geschickten, Kandidaten zum nächsten Präsidenten der Europäischen Kommission wählen. Die europäische Demokratie soll dadurch gestärkt, die Wahlbeteiligung erhöht, der gesamte Prozess für den Wähler transparenter und nachvollziehbarer gemacht werden.

Chefplan
Die Freude darüber scheint bei den EU-Regierungschefs allerdings eher enden wollend. Einen Automatismus lehnen sie ab. Die Regierungschefs schlagen, unter Berücksichtigung des Wahlergebnisses, einen Kandidaten für den Kommissions-Topjob vor, und das EU-Parlament stimmt darüber ab. Lehnen die Abgeordneten diesen ab, geht es zurück an den Start und der Europäische Rat präsentiert einen neuen Kandidaten.
Die geteilte Entscheidungsfindung erleichtert die Zusammenarbeit und stärkt die demokratische Legitimierung, argumentiert Ratspräsident Tusk. Um Fakten zu schaffen, hat jedoch das EU-Parlament bereits jetzt angekündigt, nur einen der Spitzenkandidaten und keinesfalls eine hinter verschlossenen Türen aus dem Hut gezauberte Alternative zu wählen. Aber wäre es unter dieser Prämisse überhaupt realistisch, dass sich auch aktive Regierungschefs einer solchen Wahlauseinandersetzung stellen? Und was ist mit jenen möglichen Kandidaten, die keiner der derzeitig dominanten Parteifamilien angehören?

Bekanntheitsgrad
Bisher wird die Debatte fast ausschließlich unter „europapolitischen Feinspitzen“ geführt. Denn die meisten Europäer haben weder registriert, dass es so etwas wie Spitzenkandidaten überhaupt wieder geben wird, noch was sie eigentlich bezwecken sollen. Genau das soll sich dieses Mal ändern. Um ihren Bekanntheitsgrad zu erhöhen, sollten die Kandidaten schon wesentlich früher als es 2014 der Fall war, in parteiinternen Vorwahlen gekürt und dann, unterstützt durch nationale Parteien, in allen EU-Ländern präsent sein. Auch die öffentlich-rechtlichen Medien sollten sich EU-weit bereiterklären, die Debatten der Bewerber um den Kommissionspräsidenten zur Hauptabendzeit auszustrahlen. Diese könnten dann tatsächliche europapolitische Spielräume und Kompetenzabgrenzungen zu den Mitgliedstaaten diskutieren und ihre inhaltlichen Pläne darlegen.
Die europäische Integration lebt eben von Bewegung. Und nur wer in Bewegung bleibt, bleibt auch stabil. Dies gilt umso mehr für die aktuelle Europa-Debatte, die bis zur Europawahl an Intensität zunehmen muss. Nur so könnte man die EU populärer machen und eines klar aussprechen: Wir sind Europa und mittendrin statt nur dabei.