Österreichs Politik ist ohne die EU nicht vorstellbar (Gastkommentar, Die Presse)

Im Frühjahr 1945 wurden die militärischen Handlungen auch im südlichen Kärnten – in meiner näheren Heimat – beendet. In die Freude über das Ende des Zweiten Weltkriegs mischte sich der Traum von einer künftigen friedlichen Welt, zusammengefasst in den drei Worten: „Niemals wieder Krieg!“ Zur selben Zeit begannen auch diesseits und jenseits des Atlantiks führende Staatsmänner über die Zukunft Europas nachzudenken und bereits konkret zu planen.
Die Grundlagen für die Aussöhnung der Feinde von gestern waren gelegt. Der Schlüssel für die Zukunft lag in der Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland – eine heroische, historische Tat, deren Bedeutung nicht genügend oft in Erinnerung gerufen werden kann. Der Traum einer neuen Friedensordnung für Europa wurde langsam zur politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die ersten konkreten Schritte in Richtung eines geeinten Europa wurden auf allen Ebenen getan.
Österreich verfolgte diese Entwicklung aufmerksam und konnte vor allem die Möglichkeiten des Marshallplans ab 1948 für die Wirtschaft nutzen. Hinzu trat die Erkenntnis, dass die Zeiten des österreichischen Bürgerkriegs zwischen den beiden Weltkriegen endgültig vorbei waren. Das offenbarte sich in einer neuen Zusammenarbeit zwischen der Österreichischen Volkspartei und der Sozialdemokratischen Partei sowie den vier großen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen: Die Sozialpartnerschaft war geboren.
Die Vergangenheit war überwunden und diese neue Zeit konnten wir „jungen Beamten“ miterleben und zum Teil mitgestalten. Ich hatte das Glück, unter Außenminister Leopold Figl im Juli 1955 in den diplomatischen Dienst meiner Heimat aufgenommen zu werden. Es folgten Jahre bei den Vereinten Nationen in New York, in Kanada, Schweden und Bonn, um mit den Botschafterposten in Peking und bei den Europäischen Gemeinschaften in Brüssel abgeschlossen zu werden. Wien hat sich als Sitz wichtiger internationaler Organisationen und als Veranstaltungsort großer Konferenzen bewährt. An dieser Entwicklung hatte Bundeskanzler Bruno Kreisky ebenso wie UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim einen erheblichen Anteil.

Ein Welt im Wandel

Die Welt um Österreich begann sich zu ändern. Die Einigung Europas nahm Gestalt an. Österreich hatte die Möglichkeit, sich den verschiedenen wirtschaftlichen Einigungsbemühungen anzuschließen, bis es im Juli 1989 zur Überreichung des Antrags auf Eintritt Österreichs in die Europäische Gemeinschaft (EG) – damals noch Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) – kam. Allerdings stießen die österreichischen Beitrittsbestrebungen zunächst auf wenig Wohlwollen bei mehreren Mitgliedstaaten und bei dem einflussreichen Präsidenten der Europäischen Kommission, Jacques Delors, der eine Erweiterung zu diesem Zeitpunkt für nicht wünschenswert hielt. Gerade hatte die EG mit der Europäischen Einheitsakte die Grundsteine für eine zukünftige, noch enger zusammenwirkende Europäische Union gelegt.

Beitritt war nicht zu bremsen

Noch im Dezember 1988 versuchte Delors, Österreich anstelle der Mitgliedschaft in die Richtung eines lockeren europäischen Wirtschaftsraums (EWR) zu drängen. Die Entschlossenheit Österreichs, unterstützt von den meisten politischen und wirtschaftlichen Kräften, unter der Führung von Kanzler Franz Vranitzky und Außenminister Alois Mock, war aber zu stark, um die Beitrittsbewegung zu bremsen.
Mit geradezu nachtwandlerischer Sicherheit wurden die Verhandlungen um den Beitritt Österreichs auf allen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ebenen geführt. Der Großteil der österreichischen Medien unterstützte unseren Weg. Denn alle einschlägigen Studien, insbesondere jene der Sozialpartner, stimmten darin überein, dass nur eine Mitgliedschaft Österreichs in der EU dem Interesse des Landes entspreche. In der denkwürdigen Nacht von Brüssel im März 1994 gelang der entscheidende Durchbruch bei den Verhandlungen, gefolgt von dem überraschend guten Ergebnis der Volksabstimmung über den Beitritt der Republik zur EU im Juni 1994. Es waren aufregende und zum Teil emotional herausfordernde Momente.
Am 1. Jänner 1995 trat Österreich gemeinsam mit Schweden und Finnland der EU bei. Das große Einigungswerk Europas war in vollem Gange. Denn man war sich darüber im Klaren, dass eine EU nur gefestigten Bestand haben konnte, wenn der europäische Einigungsprozess möglichst viele Staaten und Bereiche umfasste. Es geht nach wie vor darum, das Friedens- und Entwicklungsprojekt Europa nach allen Seiten abzusichern. Doch das große Vorhaben ist derzeit in Gefahr. Die Regierungen sollten sich dieser äußerst bedenklichen Entwicklung in viel höherem Maß bewusst sein und alles in ihrer Macht Stehende tun, um einem gefährlichen nationalistischen und populistischen Trend Einhalt zu gebieten.
Diese beklemmende Erkenntnis ändert nichts an der Richtigkeit der gemeinsamen supranationalen Idee. Ausdruck des revolutionären Projekts sind die Institutionen – das Europäische Parlament, die Kommission, der Rat, der Gerichtshof, die Zentralbank – und die Detailarbeit in den Ministerräten. In all diesen Institutionen und darüber hinaus in den Expertengruppen arbeitet Österreich mit.
Bis zu meiner Pensionierung Ende 1996 hatte ich die Möglichkeit, in verschiedener Weise die europäische Arbeit mitzubetreuen. Unvergesslich meine Freudentränen beim Abschluss der Beitrittsverhandlungen und noch mehr angesichts des triumphalen Ergebnisses der Volksabstimmung 1994. Ab 1997 wurde mir Gelegenheit geboten, in der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik  – gegründet 1991 über Vorschlag von Staatssekretär Peter Jankowitsch  – mitzuarbeiten.
Entscheidend auch für die Zukunft sind der Bestand und die Funktionsfähigkeit der europäischen Institutionen. Es ist durchaus möglich, dass einige Entscheidungsgremien zeitweise an Bedeutung verlieren. Wenn es jedoch um Entscheidungen für die Weiterentwicklung der EU geht, werden die Institutionen ihre Arbeits- und Beschlussfähigkeit unter Beweis stellen müssen. Der Vertrag von Lissabon bildet nach wie vor die Klammer, innerhalb derer die europäische Arbeit stattfindet.
Als Diplomat, der 1931 geboren wurde und die dramatische Entwicklung des Kontinents miterlebt hat, bewahre ich mir den festen Glauben an die Einzigartigkeit des europäischen Einigungsprozesses. Wir dürfen unsere Errungenschaften nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Es entspricht nicht dem Geist der europäischen Zusammenarbeit, wenn sich Staaten voneinander abschließen und lebenswichtige Wege blockieren.
25 Jahre Mitgliedschaft in der EU liegen hinter uns. Das Engagement von damals hat sich ausgezahlt für Österreich. Die nationale und internationale Arbeit des Landes ist heute ohne EU-Mitgliedschaft nicht mehr vorstellbar.
(c) Peter Kufner