EU-Erweiterung: Wege entstehen im Gehen (Gastkommentar Paul Schmidt und Vedran Dzihic, Der Standard)

Das Warten der Balkanstaaten auf den Anfang der 2000er-Jahre noch funkelnden EU-Zug hat zermürbt. Geplagt von ständigen politischen Krisen, Animositäten und Nationalismen und einer massiven sozioökonomischen Misere, ist in der Region die Lust am Beitritt enden wollend. Eine Mehrheit der Serben etwa findet mittlerweile, dass eine EU-Mitgliedschaft dem Land nichts Gutes bringen würde. Und überhaupt glaubt man heute, dass das Putin’sche Russland für das Land wichtiger als die EU ist, ähnlich wie die muslimischen Bosnier und Teile der muslimischen Albaner in der Region Sympathien für Erdogans Türkei hegen.

Gerade diese Sorge vor dem Einfluss Russlands, der Türkei oder auch Chinas, zusammen mit der Angst vor islamischer Radikalisierung, ist es, die diese Länder wieder in den Mittelpunkt des EU-Interesses rücken lässt. Vor allem Russland, so die Vermutung, könnte das EU-Business auf dem Balkan empfindlich stören.
Kein Zufall also, dass in der neuen EU-Erweiterungsstrategie, nunmehr das Jahr 2025 als mögliches Beitrittsdatum für Serbien und Montenegro perspektivisch genannt wird. Man fordert aber konsequente Reformen, freie Medien, Rechtsstaatlichkeit. Die EU möchte wieder entschlossener sein, mehr Ressourcen investieren. Die Frage ist nur, ob die balkanische Politik den bequemen Warteraum, in dem sich gut dunkle Geschäfte machen lassen, tatsächlich verlassen möchte.
Einige Ereignisse der letzten Wochen sprechen wohl dagegen. Die Art und Weise, wie sich Belgrad und Prishtina jüngst rund um die Verhaftung des serbischen Politikers im Kosovo Marko Djuric gegenseitig mit Drohungen bedacht haben, zeigt, dass man allzu leicht und abgekoppelt vom disziplinierenden EU-Einfluss in politische Muster der 1990er-Jahre verfällt und Krisen instrumentalisiert, um eigene Machtpositionen abzusichern. Je schwächer die Wirkungsmacht der EU, desto eher zündeln lokale Eliten mit nationalistischer Rhetorik.

Scheinreformen
Auf der anderen Seite regiert die Kunst der Scheinreformen ohne transformierende Wirkung. Man setzt darauf, dass bei den Bemühungen der EU auch weiterhin vor allem die Stabilität der Region als Leitmotiv gelten und sie daher nicht bereit sein wird, gegen nahezu offen autoritäre, überdies auch korrupte und klientelistische Praktiken mutiger vorzugehen. Eine “Politik der Stabilitokratie”, die Toleranz dieser lokalen Spielchen und das Setzen auf die starken Männer der Region, ist für die Entwicklung der Demokratie in der Region verhängnisvoll und desavouiert das gesamte EU-Projekt. Die EU muss gewillt sein, den Kurs und den Charakter der Erweiterungspolitik zu ändern, will sie nicht vor den Trümmern der eigenen Ambitionen enden. Auch Österreich, das seit langem als ein Förderer der EU-Ambitionen der Nachbarregion gilt, könnte während des kommenden EU-Ratsvorsitzes neue Akzente setzen, wenn auch die konkrete Planung noch unklar ist und statt großem Aktivismus womöglich eher in kleinerem Radius operiert werden wird. Für die österreichische Bevölkerung wiederum spielt eine weitere EU-Erweiterung zurzeit eine untergeordnete Rolle – keines der Kandidatenländer kann aktuell mit mehrheitlicher Zustimmung hierzulande rechnen. Aber die Tatsache, dass sich Österreich kontinuierlich als aktiver Partner des Beitrittsprozesses positioniert, könnte zumindest dazu beigetragen haben, dass die dezidierte Ablehnung einzelner Balkanländer über die vergangenen Jahre rückläufig ist.
Wien wäre gemeinsam mit “Erweiterungsfreunden” in der EU gefordert, dem Reformprozess in Südosteuropa Schwung zu verleihen. Denn um wirtschaftlich zum EU-Durchschnitt aufzuschließen, müssten die Volkswirtschaften der Westbalkanstaaten bis zum Ende der 2030er-Jahre – gemäß EBRD – jährlich um sechs Prozent wachsen. Bei einem Wachstum von drei Prozent würde die Region erst bis 2080 mit dem EU-Durchschnitt gleichziehen.

EU muss sich reformieren
Gleichzeitig muss die EU ihre eigene Neuaufstellung erst einmal auf Schiene bringen. Solange das Fundament des eigenen Hauses nicht auf stabilere Basis gestellt wird, gibt es in der Öffentlichkeit wenig bis gar keine Lust, dieses Haus zu erweitern. Zuerst muss die Handlungsfähigkeit der Union unter Beweis gestellt, müssen aktuelle Fragen geklärt und die Entscheidungsstrukturen effizienter gemacht werden. Erst dann wird sich auch die öffentliche Meinung zu einer neuen Erweiterungsrunde wieder verbessern. Die Frage bleibt allerdings, ob genug politischer Wille und Weitblick vorhanden ist, diese mittelfristigen Ziele zu erreichen, und ob eine EU stark genug ist, Reformen und Vertragstreue nach innen wie nach außen überzeugend einzufordern. Unter diesen Voraussetzungen muss eine erfolgreiche Erweiterungspolitik endlich Neues wagen. Warum sollte man denn nicht im EU-Parlament auch schon vor dem Beitritt Abgeordnete aus dem Balkan integrieren und sie für Europa und ihre Region arbeiten lassen? Warum nicht die in vielen Bereichen ohnehin schon vollzogene Integration des Balkans in die EU formalisieren? Warum sollte man nicht die Staaten des Balkans an Debatten über die Zukunft des gemeinsamen Europa teilhaben lassen? Ohne Kreativität und Mut wird das Erweiterungsprojekt zu einer europäischen Unvollendeten und damit zu einer schweren Hypothek für den ganzen Kontinent werden. Auch neue Ideen aus Wien wären jetzt gefragt.