Die Rede der EU-Kommissionspräsidentin zur Lage der Union findet in turbulenten Zeiten statt. Die Corona-Situation sprengt alles bisher Dagewesene. Dabei wäre schon die normale Agenda alles andere als ein Spaziergang: Klimaschutz, Brexit-Endspurt, interne Divergenzen in wesentlichen Politikbereichen, eine schmerzlich fehlende Asyl- und Migrationspolitik und die komplexe Neuordnung der vielschichtigen Beziehungen zu den USA, China, Russland und Afrika. Dazu kommen zahlreiche aktuelle Krisenherde in Europas unruhiger Nachbarschaft. Doch durch die Pandemie schrumpfte alles andere – zumindest vorübergehend – zur Nebensächlichkeit zusammen.
· Europa ist nur dann stark, wenn wir zusammenhalten. Das gilt besonders in Krisenzeiten. Aber auch, um im weltweiten Wettbewerb zu bestehen und die Globalisierung nach unseren Vorstellungen zu gestalten. Die Herausforderungen sind enorm, aber sie sind eine Gelegenheit zu wachsen. Wir haben jetzt die Möglichkeit, vieles anders zu machen und die Union zu erneuern.
Absolute Priorität Gesundheit
· Die Bewältigung der Corona-Pandemie steht dabei im Zentrum unseres Handelns. Die Verbesserung der Widerstandsfähigkeit der europäischen Gesundheitssysteme und der Gesundheitsversorgung hat absolute Priorität. Nie wieder darf es passieren, dass in der EU Patienten keine ärztliche Versorgung mehr erhalten oder von Spitälern abgewiesen werden. Dafür werden wir alle unsere Finanzmittel zur Verfügung stellen, unser Krisenmanagement verbessern und Kapazitäten in politisch sensitiven Bereichen, wie bei Medikamenten und medizinischen Gütern, weiter ausbauen. Wir werden mit all unserem Engagement dazu beitragen, rasch einen Corona-Impfstoff zu entwickeln und diesen allen und jedem zur Verfügung stellen.
· Die EU wird durch die Verdoppelung ihres Krisenbudgets die Konjunkturprogramme der Mitgliedsländer massiv unterstützen und zukunftsgerichtete Investitionen in Klimaschutz und Digitales ermöglichen. Unser Ziel ist es, innovatives Wirtschaftswachstum zu fördern, die Arbeitsplätze der Europäerinnen und Europäer zu schützen und neue Jobmöglichkeiten in Zukunftsbereichen zu schaffen.
Generationenkonflikt vermeiden
· Mit den Beschlüssen über den neuen mehrjährigen EU-Haushalt und den EU-Aufbauplan wird der Klimaschutz in allen Politikfeldern zur Maxime unserer Politikgestaltung. Um diese Ambition zu verdeutlichen, sind wir bereit, unsere Klimaziele gemeinsam weiter zu erhöhen. Wir setzen auf den europäischen Wettbewerb smarter Ideen und Konzepte, um langfristig Umwelt- und Ressourcenprobleme zu vermeiden und Abhängigkeiten zu reduzieren. Um die Klimakrise zu bewältigen, setzt Europa internationale Standards und ist weltweit Vorreiter in Sachen Klimaschutz.
· Junge Menschen in der EU sind in ihren Lebenschancen überproportional von den aktuellen Krisenentwicklungen betroffen. Die vielschichtigen Folgen dürfen jedoch keinesfalls zu einem neuen Generationenkonflikt führen. Wir werden daher besonders darauf achten, in Ausbildungs- und Weiterbildungsprojekte zu investieren und Programme zur Finanzierung der Jugendbeschäftigung noch stärker als bisher einfordern und fördern.
Wegschauen keine Option
· Die EU muss auch neue Wege finden, ihre inneren Meinungsverschiedenheiten zu klären. Dazu braucht es Weitblick, Gemeinschaftssinn und Kompromissbereitschaft auf allen Seiten. Nur wenn wir nach außen geeint auftreten, werden wir unsere globale Rolle weiter stärken können. Auch hier müssen unsere gemeinsamen Werte unser Kompass sein. Sie bilden die Grundlage des europäischen Projekts. Wenn es um Demokratie, Freiheit und Menschenrechte geht, ist Wegschauen keine Option.
· Eine akkordierte Asyl- und Migrationspolitik ist dringender denn je. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten müssen endlich vom Kreisverkehr in die Zielgerade abbiegen und sich auf eine einheitliche Strategie einigen. Realismus, Pragmatismus und Humanismus müssen dabei Hand in Hand gehen. Effektive Hilfe vor Ort, gesicherte Außengrenzen und ein menschenwürdiger Umgang mit Geflüchteten sowie realistische Möglichkeiten, Asyl zu beantragen, sind kein Widerspruch, sondern gehören gemeinsam und nachhaltig umgesetzt.
Pochen auf Rechtsstaatlichkeit
· Die EU ist eine Rechtsgemeinschaft. Fragen der Rechtsstaatlichkeit sind nicht verhandelbar, Verträge sind einzuhalten. Dieser Grundsatz gilt für alle EU-Mitglieder wie für alle anderen weltweiten Partner.
· Die Länder des Westbalkans sollten bis 2030 Teil unserer Union werden. Bis dahin ist viel zu tun. Wenn unsere südosteuropäischen Nachbarn ihre Reformanstrengungen weiter ausbauen, kann diese Ambition Wirklichkeit werden. Wir werden die wirtschaftliche Unterstützung für diesen Teil Europas jedenfalls bereitstellen und gleichzeitig an einer Union weiterbauen, die zu diesem Zeitpunkt auch erweiterungsfähig sein wird.
· Lasst es uns also angehen, unsere Ideen in die Tat umzusetzen. Nicht weil es einfach oder gar leicht wäre, sondern weil es, man soll es gar nicht kleinreden, immer schwieriger wird. Aber Europa ist es wert, sich dafür einzusetzen.