Der Status quo ist keine Option (Gastkommentar Paul Schmidt, Wiener Zeitung)

Das Timing ist gut gewählt. Kurz vor der Brexit-Zielgeraden und dem beginnenden EU-Wahlkampf hat sich der französische Staatspräsident Emmanuel Macron mit einem Brief an alle Bürger Europas gewandt, mit dem Ziel, Europa voranzubringen. Ambitioniert, etatistisch beschreibt er seine Vorstellungen zur Neugründung Europas. Die CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer repliziert. Pragmatisch, realistisch, aber doch zurückhaltender.

Die Kommentare unterscheiden sich in Stil und Inhalt, zeigen aber auch Gemeinsamkeiten. Klimaschutz und Sicherheit werden ins Zentrum der Debatte gerückt, während der Euroraum als Kern der EU-Integration nur begrenzt Erwähnung findet. Beide möchten Europa stärken und mit jeweils eigenen Akzenten mehr Klarheit, Orientierung und damit mehr Selbstbewusstsein geben.

Macron geht jedoch wesentlich weiter als Kramp-Karrenbauer. Er möchte Europa aus seiner Selbstverzwergungsfalle befreien und aus der Brexit-Sackgasse die richtigen Lehren ziehen. Dabei plädiert er für neue Formate der Zusammenarbeit, neue Verträge und Institutionen. Von einem Vertrag über Verteidigung und Sicherheit, einer Agentur zum Schutz der Demokratie, einer Europäischen Klimabank bis zu einem Europäischen Innovationsrat. Der Schengen-Raum soll neu definiert werden, um Solidarität und Verantwortung besser in Einklang zu bringen, und einer gemeinsamen Grenzpolizei und europäischen Asylbehörde sowie einem Europäischen Rat für Innere Sicherheit unterstellt sein.

In der Frage des Außengrenzschutzes und der stärkeren Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten stimmen Paris und Berlin überein. Auch ein fairerer Wettbewerb ist beiden ein Anliegen. Macrons Forderung nach sozialer Grundsicherung und einem Modell für einen europäischen Mindestlohn erteilt Kramp-Karrenbauer jedoch eine klare Abfuhr. Sie warnt vor Zentralismus und Etatismus und betont die essenzielle Rolle der EU-Länder am Steuerrad Europas.

Die CDU-Chefin setzt sich für einen gemeinsamen Sitz der EU im UN-Sicherheitsrat ein und spricht sich – den Franzosen zum Trotz – für die Konzentration des EU-Parlaments auf den Standort Brüssel aus. Bei allen konzeptuellen Unterschieden sind sich beide einig: Die EU ist ein politisches Projekt, das verbessert werden muss.

Die Frage, woher die Unzufriedenheit mit der Politik kommt, wird allerdings nicht ausreichend gestellt. Macron schlägt für die europäische Ebene im Grunde Lösungen vor, die er auf nationaler Ebene nicht imstande ist umzusetzen. Die Ambition in Paris ist es dennoch, eine EU-Vertragsreform bis Ende des Jahres auf Schiene zu bringen, auch wenn letztlich nicht alle Mitgliedstaaten dabei im Integrationsgleichschritt gehen. Berlin sieht die Notwendigkeit von Veränderung, ist jedoch vorsichtiger. Entscheidend dabei ist aber, dass die dringend notwendige Zukunftsdebatte endlich geführt wird.

Weitere europäische Politiker sollten dem Beispiel folgen und ihre Ansichten ebenfalls zur Diskussion stellen. Wohin soll die Integrationsreise gehen? Die Zeiten, als man dazu keine konkrete Meinung haben musste, die sind längst vorbei.