Großbritannien entscheidet über Chaos, einen geordneten EU-Austritt oder einen Exit vom Brexit
Michel Barnier, Chefunterhändler der EU-27 für den britischen EU-Austritt, hat professionell verhandelt und sich zeitgerecht mit der Regierung in London auf ein technisches Brexit-Abkommen geeinigt. Neben den weiteren britischen Beitragszahlungen an den EU-Haushalt, den garantierten Rechten der in Großbritannien lebenden EU-Bürger sowie der aktuell in den EU-27 lebenden Briten hat man sich letztlich auch auf den Umgang mit der Grenze zwischen Irland und Nordirland verständigt. Eine harte, tatsächliche Grenze soll unter allen Umständen vermieden werden.
Maßgeschneidertes EU-UK-Zollgebiet
Die Zauberformel: ein maßgeschneidertes EU-UK-Zollgebiet mit speziellem Status für Nordirland im Güterbereich. Darüber hinaus: zukünftige Abkommen, die Regeln angleichen und damit Kontrollen in der Irischen See auf ein Minimum reduzieren sollen. Die Zollpartnerschaft soll nur einvernehmlich kündbar sein und damit die offene Grenze mit Irland garantieren. Da über die künftige Beziehung zwischen Großbritannien und der EU-27 bis Ende 2020 verhandelt wird, ist auch hier noch nicht alles in Stein gemeißelt. Diese – auch dem Zeitdruck geschuldete – angepeilte Zwischenlösung soll dann weiter verfeinert werden. Aber klar ist, dass der Rahmen für weitere Verhandlungen damit abgesteckt wäre und der angedachte Weg einer britischen Teilnahme an einer EU-Zollunion – im Interesse der britischen Wirtschaft, aber ein Dorn im Auge aller Brexit-Befürworter – sehr nahe käme.
Allerdings wären London bei Verhandlung von Freihandelsabkommen mit Drittstaaten die Hände gebunden. Darüber hinaus soll bei Vertragsstreitigkeiten ein gemischter Ausschuss Lösungen suchen und bei Dissens ein Schiedsgericht anrufen können. Im Falle von Meinungsverschiedenheiten, die EU-Recht betreffen, würde der Europäische Gerichtshof um einen bindenden Entscheid ersucht werden. Der von der britischen Politik wenig geliebte EU-Gerichtshof würde damit auch weiterhin eine für Großbritannien nicht unbedeutende Rolle spielen.
Verlierer und Gewinner
Die EU-27 werden diesen Kompromiss, der in enger Abstimmung mit ihnen verhandelt wurde, begrüßen. Aber ob das britische Unterhaus diesem Abkommen tatsächlich zustimmen wird, bleibt ungewiss. Denn der britische EU-Austritt produziert ausschließlich Verlierer und keine Gewinner – und das vor allem in Großbritannien. Beide Verhandlungsseiten waren zwar um Schadensbegrenzung bemüht. Aber wirtschaftliche Notwendigkeiten sind in der britischen Innenpolitik – und nicht nur dort – Nebensache. Innenpolitische Strategien und persönliche Machtkämpfe dominieren im Feilschen um eine parlamentarische Unterstützung für – oder eben gegen – den Austrittsvertrag. Die britische Premierministerin hat jedoch keine Wahl, will sie einen geordneten und möglichst weichen Brexit auch umsetzen, während ihr Brexit-Chefverhandler und weitere Kabinettsmitglieder die Gunst der Stunde für einen Rücktritt nützen und von Bord gehen.
Letztlich entscheidet die politische Elite in London, wie und ob Großbritannien aus der EU ausscheidet. Aber die politische Verantwortung und die wirtschaftlichen Kosten für diesen Pallawatsch, den ein Brexit anrichtet, sind die wenigsten bereit zu tragen.