Und was kommt nach der Krise? (Gastkommentar, Die Presse)

Wenn die Welt untergeht, dann gehe ich nach Wien. Dort passiert alles zehn Jahre später“, soll Karl Kraus einmal gesagt haben. Diese Zeiten sind endgültig vorbei. Die Welt befindet sich im Ausnahmezustand, und wir sind mittendrin statt nur dabei. Das Coronavirus hält uns in Atem, weckt Ohnmachtsgefühle, Hilflosigkeit und Angst.
In Ermangelung von Impfstoffen oder Medikamenten schließen die Staaten im Dominoeffekt ihre Grenzen und reduzieren – nicht nur – die Versammlungs- und Bewegungsfreiheit, um die Ansteckungsgeschwindigkeit des Virus einzudämmen und das jeweilige Gesundheitssystem zu schützen.
Gerade haben wir noch um die zweite Kommastelle beim nächsten mehrjährigen EU-Finanzrahmen gestritten, jetzt werden Hunderte Milliarden Euro schwere Hilfspakete in den Hauptstädten geschnürt, um die wirtschaftlichen Folgen des Stillstands zumindest für die ersten Wochen abzumildern. Ist der Nationalstaat die Ultima Ratio? Hat die EU versagt? Mitnichten. Die EU ist immer nur so stark, wie ihre Mitglieder es wollen. Aber Krisen führen auch zu Lerneffekten. Zehn davon lassen sich gegenwärtig schon in Ansätzen identifizieren.

Die Lerneffekte aus der Krise

1 Die EU und ihre Mitglieder müssen ihr Krisenmanagement neu aufstellen. Wir brauchen effektivere Notfallpläne, um bei Ausbruch einer Krise einzelne nationale Maßnahmen rasch und zielgerichtet koordinieren zu können.
Negative Sekundäreffekte, wie nationale Exportverbote für medizinische Ausrüstung, Aus- und Einreisebeschränkungen für Gesundheits- und Pflegepersonal oder eine Unterbrechung des grenzüberschreitenden Warenverkehrs, müssen vermieden, die grenzüberschreitende, in diesem Fall medizinische Zusammenarbeit muss verbessert werden.
2 In Wirtschafts- und Finanzfragen hat die EU nach der letzten Finanzkrise dazugelernt, ihre Reaktionsfähigkeit verbessert. Das Eurosystem sichert die Versorgung mit Liquidität. Die EU-Mitglieder verabschieden Konjunkturpakete, die EU-Kommission gibt grünes Licht, mobilisiert EU-Strukturfonds und ordnet den Binnenmarkt. Weitere Schritte zur Ausweitung der Kriseninstrumente sind aber notwendig. Unmittelbar etwa des Euro-Rettungsschirms, angepasst an gänzlich neue Rahmenbedingungen. Für alle von der Krise gebeutelten Länder muss der Zugang zum Kapitalmarkt sichergestellt werden.
3 Die Entschlossenheit der EU, flexibel Wirtschafts- und Finanzhilfe zu leisten, sollte dem Gesundheitsbereich als Inspiration dienen, einen europäischen Raum der Gesundheit zu schaffen. Gesundheitsfragen sind bis dato vor allem nationale Angelegenheit. Medizinische Versorgung, die Organisation des Gesundheitswesens oder etwa Quarantänemaßnahmen werden vor Ort geleistet. Die EU darf die Mitgliedsländer bislang lediglich unterstützen und, bei Goodwill, koordinieren. Die aktuelle Krise macht jedoch deutlich, dass es gerade bei grenzüberschreitenden Gesundheitsbedrohungen – etwa bei übertragbaren Krankheiten, Bioterrorismus oder der Übernahme von WHO-Abkommen – künftig neue europäische Zuständigkeiten braucht.
4 Ein robustes, öffentliches Gesundheitssystem ist eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Säulen des europäischen Wohlfahrtsstaats. Hier sind eine bessere Finanzierung und zusätzliche Kapazitäten dringend notwendig, statt zu kurz gedachte Einsparungen. Selbiges gilt für den effektiven Krisenschutz der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, der bisher insbesondere in Ländern mit handlungsfähigen sozialpartnerschaftlichen Strukturen und bei traditionell eingespielten Regeln des sozialen Zusammenhalts funktioniert. Österreich könnte sich hier seiner europäischen Vorreiterfunktion erinnern.
5 Auch wenn nationale Grenzen reflexartig wieder hochgezogen werden und mancherorts per Notstandsgesetz regiert wird. Ein Corona-Nationalismus löst keine Probleme und hat keine Zukunft. Nationale, regionale und europäische Krisenmaßnahmen müssen einander ergänzen, um ihre volle Wirksamkeit zu entfalten und die gewünschten Skaleneffekte zu erzielen.
6 In der gegenwärtigen Krise ist auch der Stellenwert der Nationalität in der öffentlichen Wahrnehmung wieder gewachsen. Jedes Land versucht, seine eigenen StaatsbürgerInnen – wohl unterstützt durch die EU-Kommission – nach Hause zu holen. Die stärkere Förderung eines gemeinsamen europäischen Bewusstseins und europäischer Solidarität ist kein Widerspruch dazu, sondern unverzichtbare Voraussetzung einer vertieften Zusammenarbeit.
7 Der Globalisierungstrend erlebt einen Dämpfer. Fragen der Versorgungssicherheit und lokale, europäische Produktionsbedingungen harren – auch vor dem Hintergrund der EU-Klimastrategie – einer neuen Antwort. Fundamentale Abhängigkeiten aufgrund globaler Lieferketten könnten reduziert, neue, eigene Strukturen aufgebaut werden. Eine Chance für die EU, und hier im Besonderen für die grenzüberschreitende regionale Kooperation.

Auf eigenen Füßen stehen

8 An der Digitalisierung führt allerdings kein Weg vorbei. Home-Office, Videokonferenzen, digitales Lernen, sozial-digitale Kontakte. Die digitale Verbundenheit bewährt sich als kritische Kommunikationsinfrastruktur. Auch hier werden wir lernen müssen, auf eigenen Füßen zu stehen. Ihre Sicherung und Gewährleistung im Krisenfall ist für die EU essenziell, den direkten, zwischenmenschlichen Kontakt wird die digitale Kommunikation jedoch nicht ersetzen.
9 Ebenso muss die aktuelle Krise dazu führen, Investitionen in Forschung und Entwicklung in der EU massiv auszubauen. Europa wird neue Wege einschlagen müssen, um exzellente Forschung zu fördern, wirtschaftlich besser zu nutzen und Abhängigkeiten zu begrenzen.
10 Gelingt es der EU im Zusammenspiel mit ihren Mitgliedstaaten, dazu beizutragen, mit einem großflächigen Wiederaufbauprogramm gemeinsam Unternehmen durch diese Krise zu helfen, Beschäftigung zu erhalten und soziale und gesellschaftliche Folgen abzufedern, wird sie an Zustimmung gewinnen und das Vertrauen in die europäische Zusammenarbeit wieder gestärkt.
Krisen sind auch ein Test. Sie können trennen oder zusammenschweißen. Sie machen bewusst, was wir bewahren, was wir künftig verändern wollen. Nach der Coronakrise wird vielleicht vieles anders werden. Aber die Europäische Union hat die gesellschaftliche Kraft, das wissenschaftliche Know-how und das wirtschaftliche Potenzial, diese Polykrise zu meistern.
Karikatur: (c) Peter Kufner