Keine Frage. Der EU-Austrittsvertrag mit Großbritannien ist ein höchst professionell verhandeltes Abkommen. In einer unmöglichen Situation ein wahrscheinlich bestmögliches Abkommen, um einen geordneten Ablauf des Brexit sicherzustellen. Es wäre dennoch übertrieben, die Vereinbarung ein “diplomatisches Meisterstück” zu nennen. Denn das Meisterstück wäre es gewesen, es gar nicht so weit kommen zu lassen.
Ob das Abkommen mit der EU überhaupt die Abstimmung im britischen Unterhaus am 11. Dezember überlebt, scheint mehr als unsicher. In allen Lagern formiert sich Widerstand, selbst auf ihre eigenen Parteifreunde und den nordirischen Koalitionspartner, kann sich Premierministerin Theresa May nicht verlassen. Brexit-Hardliner lehnen den Deal rundheraus ab und argumentieren auf einmal, sogar eine EU-Mitgliedschaft wäre besser. Womit sie durchaus recht haben, wie auch soeben veröffentlichte Prognosen der Bank of England und Aussagen des britischen Finanzministers nahelegen.
Jedenfalls drängt die Zeit, um einen ungeregelten Brexit zu verhindern, der laut Bank of England einen Rückgang der britischen Wirtschaftsleistung um 8 Prozentpunkte binnen eines Jahres mit sich brächte, aber auch für die EU-27 mit hohen Kosten verbunden wäre. Um das Schlimmste abzuwenden, müssten die Notfallszenarien auf beiden Seiten bestmöglich aufeinander abgestimmt werden. Stichtag dafür wäre der 29. März 2019, der offizielle EU-Austrittstermin des Vereinigten Königreiches.
London ist jetzt gefordert, um aus diesem hausgemachten Schlamassel doch noch einen vernünftigen Ausweg zu finden. May signalisiert nach außen hin demonstrativ Standfestigkeit und beharrt, dass die aktuelle Vereinbarung der einzig mögliche – und am wenigsten schmerzhafte – Weg aus der EU sei. Auf dieser Basis könnte sie strategisch durchaus auf ein zweites Referendum setzen, um über ihren Deal oder aber den EU-Verbleib abstimmen zu lassen. Die EU-27 würden sich dieser Vorgehensweise nicht entgegenstellen.
Ein weiteres mögliches Szenario wäre ein Rücktritt der Premierministerin nach einer Abstimmungsniederlage im Unterhaus, was wohl auf Neuwahlen und in jedem Fall auf Neuverhandlungen hinauslaufen würde. Auch in diesem Fall wäre ein zweites Referendum denkbar, wobei es von der Regierungszusammensetzung und den Mehrheitsverhältnissen im britischen Unterhaus abhinge, über welche Zukunftsoptionen abgestimmt würde.
Auch aus demokratiepolitischer Sicht wäre eine zweite Abstimmung durchaus zu rechtfertigen. Rückblickend war das Brexit-Referendum vom Juni 2016 ein Votum ins Blaue mit vielen leeren Versprechungen, einem hohen Grad an Emotionalisierung und keinerlei konkretem Austrittsplan. Nun würden zumindest Fakten, klare Optionen und ihre Konsequenzen auf dem Tisch liegen. Ein zweites Referendum wäre somit keine Missachtung des Wählerwillens, sondern eine notwendige Neubewertung. Klar ist jedoch auch, dass dadurch die Spaltung des Landes und seiner Regionen kaum geringer würde. Eine weitere Facette im unendlich scheinenden Brexit-Drama.