Zehn Vorschläge für eine neue Europapolitik (Gastkommentar, Der Standard)

In einer Welt, die sich rasch weiterdreht, muss sich auch die Europäische Union bewegen, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Stillstand kann keine Option sein – trotz unterschiedlichster Vorstellungen in den EU-Hauptstädten. Vielmehr braucht es Klarheit darüber, wohin die europäische Integrationsreise gehen soll. Die nächste österreichische Bundesregierung hat die Chance, diese Reise mitzugestalten und die EU und ihre Strukturen weiterzuentwickeln. Wo könnte sie hier ansetzen?
Mit dem Anspruch, die EU besser machen zu wollen, sollten auch die eigenen Prioritäten nachgeschärft und überdacht werden. Gleich zu Beginn könnten die Österreicherinnen und Österreicher in diesem dialektischen Prozess mitgenommen werden. Während auf europäischer Ebene mit dem Start der neuen EU-Kommission auch die Konferenz zur Zukunft Europas ihren Lauf nehmen wird, könnte die Bundesregierung ihrerseits in allen Bundesländern strukturierte Bürgerdialoge über die Zukunft Europas abhalten. Nicht als Feigenblatt für spätere Hinterzimmerpolitik, sondern als ehrlich gemeintes Zuhören und Austausch von Argumenten.
Die Debattenergebnisse wären eine gute Basis, um – gerade vor dem Hintergrund des 25. Jubiläums der EU-Mitgliedschaft – eine umfassende, neue Europastrategie für das Land zu erarbeiten. Eine Strategie, die mit einem Bekenntnis zur europäischen Integration beginnen könnte. Zu einer modernisierten EU, die ihre Arbeit ergebnisorientiert auf einige große Politikfelder und Projekte fokussiert, ähnlich der Euro-Einführung und der Vollendung des Binnenmarkts, und in der es den Mitgliedstaaten auch ermöglicht wird, in bestimmten Bereichen gemeinsam voranzugehen.
Was könnten die Grundpfeiler einer solchen Europastrategie sein? Zehn Vorschläge als Anregung:

  • Neue Allianzen bilden Die Bundesregierung könnte klar zum Ausdruck bringen, dass sie an nachhaltigen strategischen Allianzen der Modernisierer in einem sich verändernden Europa bauen wird, mit dem Ziel, die multilaterale Zusammenarbeit zu stärken, Wohlstand und Beschäftigung zu fördern, den Klimaschutz zu forcieren und sozial verträglich zu gestalten sowie die digitale Agenda voranzutreiben.
  • Subsidiarität leben Ein erneuertes Bekenntnis zum Prinzip der Subsidiarität, als – wie in den EU-Verträgen vorgesehen – zentralem Bestandteil der europäischen Integration wäre ebenso angebracht. Allerdings weniger als Einbahnstraße in Richtung Nationalstaat, sondern als Grundsatz, der Kompetenzverschiebungen in alle Richtungen und zwischen den unterschiedlichen politischen Ebenen ermöglicht und dabei die Vielfalt Europas gewährleistet.
  • Europäische Institutionen stärken Kleinere Länder wie Österreich waren stets gut beraten, sich aktiv für eine Stärkung der EU-Institutionen und ihrer demokratischen Legitimität einzusetzen. Es ist eine Frage der politischen Glaubwürdigkeit und der demokratiepolitischen Notwendigkeit, das Spitzenkandidatensystem zu reformieren und eine europäische Wahlrechtsreform rechtzeitig vor den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament umzusetzen.
  • Europäische Handlungsfähigkeit ermöglichen In weltpolitisch instabilen Zeiten braucht es europäischen Zusammenhalt und eine effizientere europäische Entscheidungsfindung. Um die Handlungsfähigkeit der Union zu verbessern, sollte sich die nächste Bundesregierung gezielt für ein Ende der Einstimmigkeit bei europäischen Beschlüssen einsetzen.
  • Die EU als Werte- und Rechtsgemeinschaft fördern Gerade Österreich ist gut positioniert, einen aktiven Beitrag zu leisten, die EU als Werte- und Rechtsgemeinschaft weiter zu festigen und – unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs – die Zusammenarbeit mit den mittel- und osteuropäischen Nachbarn zu intensivieren. Dabei könnte Österreich mit gutem Beispiel vorangehen, indem die Bundesregierung selbst den Dialog mit den zuständigen Akteuren sucht, um mit europarechtskonformen Lösungen etwaige eigene Rechtsstreitigkeiten schon frühzeitig zu vermeiden.
  • Ein EU-Budget ermöglichen Die Bundesregierung könnte eine angemessene finanzielle Beitragserhöhung zu einem zukunftsorientierten EU-Budget, das diesen Namen auch verdient, in Aussicht stellen. Eine effektive Mittelaufstockung sollte insbesondere in den für Österreich wichtigen Schlüsselbereichen erfolgen, in denen der europäische Mehrwert klar ersichtlich ist, etwa beim gemeinsamen Außengrenzschutz, der Hilfe vor Ort, der Digitalisierung und dem Klimaschutz. Die Beachtung des Rechtsstaatsprinzips und der EU-Grundrechtecharta sollte Voraussetzung für Mitgliedstaaten sein, um Mittel aus dem EU-Haushalt zu erhalten.
  • Die EU vertiefen und erweitern Die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, die Erweiterungsperspektive für Südosteuropa wieder mit Leben zu erfüllen, indem sie für eine EU-Erweiterungspolitik mit klareren Kriterien eintritt, eine Modernisierung des Prozesses unterstützt und gleichzeitig die Neuaufstellung der Union vorantreibt. Ohne Vertiefung hat die Erweiterung der EU keine Chance.
  • Europa aus einer Hand Um ein effizientes und einheitliches europapolitisches Auftreten der Bundesregierung auf allen politischen Ebenen zu gewährleisten, sollte ein zuständiges Bundesministerium die europapolitischen Positionen der einzelnen Fachministerien, die strategische Ausrichtung und die gesamte Europainformation und -kommunikation in Österreich koordinieren.
  • Europa in jeder Gemeinde Das Netzwerk der Gemeinderätinnen und Gemeinderäte ist ein Beleg dafür, dass die EU-Integration auch von unten nach oben wächst. In Zukunft sollte jede Gemeinde in Österreich einen/eine EU-Gemeinderat/rätin stellen, jede/r von ihnen sollte aber auch die notwendigen Informationen für diese Tätigkeit ungefiltert erhalten.Und schlussendlich:
  • Europa an jeder Schule Warum soll es im Laufe der Legislaturperiode eigentlich nicht wieder 1000 Lehrerinnen und Lehrern ermöglicht werden, nach Brüssel oder Straßburg zu reisen, um die EU und ihre Institutionen auch vor Ort kennenzulernen?Österreich kann jetzt seinen Beitrag leisten, die EU neu aufzustellen. Die nächste Bundesregierung sollte diese Möglichkeit nützen und Europa jene Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen, die es realpolitisch verdient.