Flüchtlingskrise: Kooperation im Schatten der Populisten (Bericht, Der Standard)

Wien, Der Standard, Gerald Schubert – Schon die Sprache gab die Richtung vor. Als Ungarns Regierung im vergangenen Frühjahr ihre “nationale Konsultation” zum Thema Migration startete, standen die Begriffe Flüchtlinge und Terror im Zentrum eines Katalogs von Fragen an alle Bürger. “In der begleitenden Kampagne wurden diese beiden Dinge miteinander verschmolzen”, beklagt András Szalai vom Budapester “Zentrum für Studien zur EU-Erweiterung”.
Derzeit läuft in Ungarn wieder eine Kampagne, sagt Szalai dem STANDARD. Diesmal geht es um das geplante Referendum über die Quoten zur Aufteilung von Flüchtlingen in der EU, die Budapest strikt ablehnt. Die Ungarn sollten nun eine “Botschaft nach Brüssel” schicken, heißt es.

Gegennarrative schaffen

Simple Sprache, kaum Erklärungen, knappe Appelle an Emotionen. Das sind laut Szalai die wichtigsten Zutaten in der Rhetorik der nationalkonservativen Führung seines Landes. Gleichzeitig aber gebe es auch in Ungarn eine starke Bürgerbewegung, die über soziale Netzwerke Gegennarrative schaffen will. Vor dem Hintergrund des oft populistischen Stils von Politikern verblassen derlei Initiativen aber in der öffentlichen Wahrnehmung – nicht nur in Bezug auf Ungarn.
Die Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) hat deshalb ein Projekt gestartet, um Vertreter der Bürgergesellschaft Österreichs und seiner mitteleuropäischen Nachbarländer Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien miteinander zu vernetzen – und Möglichkeiten der Zusammenarbeit auszuloten.
In der Flüchtlingsfrage seien die gegenseitigen Missverständnisse und Feindseligkeiten auf politischer Ebene bisher ein “Desaster” gewesen, sagt ÖGfE-Generalsekretär Paul Schmidt. Auf der Ebene der Bürgergesellschaft stelle sich die Situation jedoch anders dar.

Mehr Sensibilität

Genau dafür soll nun das Projekt “Mitteleuropa und die Flüchtlingsfrage: Kooperation oder Konfrontation?” mehr Sensibilität schaffen. Wissenschaftliche Institute und politische Thinktanks der genannten Länder haben bereits Workshops mit heimischen NGOs abgehalten, am Donnerstag und Freitag gab es nun ein erstes gemeinsames Treffen in Wien. Weitere Veranstaltungen und öffentliche Diskussionen in den anderen vier Hauptstädten werden folgen.
Trotz vieler Gemeinsamkeiten bleibt die Ausgangssituation in den einzelnen Ländern unterschiedlich. Christian Kvorning Lassen vom Prager Institut Europeum etwa verweist auf die unterschiedlichen Positionen der vier Visegrád-Staaten Tschechien, Slowakei, Ungarn und Polen (V4): Während Tschechiens sozialdemokratischer Premier Bohuslav Sobotka nach dem jüngsten V4-Gipfel in Prag vor neuem Nationalismus und Rechtspopulismus gewarnt habe, hätten die anderen Regierungschefs vor allem über zu starke “Einmischung aus Brüssel” in ihre jeweilige nationale Flüchtlingspolitik geklagt.

Erbe der Wahl in der Slowakei

Alena Kudzko vom Globsec Policy Institute in Bratislava wiederum berichtet vom Erbe der slowakischen Parlamentswahl im März dieses Jahres. Die linkspopulistische Partei Smer von Premier Robert Fico hatte das Thema Migration in ihrer Kampagne in den Vordergrund gestellt und müsse nun mit den Konsequenzen leben, meint Kudzko. Smer ging zwar wieder als Wahlsieger hervor, im Sog des Flüchtlingswahlkampfs schafften es aber auch zwei nationalistische Parteien ins Parlament jenes Landes, das im Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt.
Vom Projekt der ÖGfE versprechen sich alle einen besseren Erfahrungsaustausch auf NGO-Ebene und bessere mediale Vernetzung. So habe früher etwa kaum eine slowenische Gemeinde Flüchtlinge aufnehmen wollen, erzählt Marko Lovec vom Forschungszentrum für Internationale Beziehungen in Ljubljana dem STANDARD. Dann aber sei im slowenischen Fernsehen ein Bericht über gelungene Integration von Flüchtlingen in österreichischen Gemeinden gelaufen. “Jetzt haben sich auch bei uns manche Kommunen entschieden, Migranten aufzunehmen”, sagt Lovec. “Das sollten die Österreicher wissen.”
(Gerald Schubert, Der Standard, 11.6.2016)