Mit Mut und neuen Ideen (Gastkommentar Das Magazin des Österreichischen Städtebundes)

Wohin soll sich die Europäische Union entwickeln? Wie soll sie mit den Folgen des russischen Krieges gegen die Ukraine, der Klimakrise und der Corona-Pandemie umgehen? Wie kann sich die Union nach außen im geopolitischen Wettstreit behaupten und im Inneren den Differenzen – etwa über demokratische Werte und Rechtsstaatlichkeit – begegnen? Antworten auf diese und weitere Fragen soll die seit Mai 2021 laufende Debatte zur Zukunft Europas bringen. Dabei setzen die EU und ihre Mitgliedstaaten insbesondere auch auf das Engagement und die Ideen der knapp 450 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger. Diese sollen in die für zwölf Monate angesetzte europäische Zukunftsdiskussion breit eingebunden wer­den, ihre Visionen, Konzepte und Vorstellungen – wie es EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betont – „die Prioritäten der EU maßgeblich mitbestimmen”.
Mangelnde Bürger:innenbeteiligung zählt zu den immer wieder vorgebrachten Kritikpunkten, denen sich die europäische Integration gegenübersieht. Daher ist es ein starkes Signal, dass der direkten Mitsprache der Menschen in der Zukunftsdebatte jetzt prominent Raum gegeben wird. Gerade auch in einer Zeit, in der aus gesundheitspolitischer Rück­sicht demokratische Rechte deutlich eingeschränkt werden mussten. Umso wichtiger wird es nun sein, dass die „Konferenz zur Zukunft Europas”, so ihre offizielle Bezeichnung, nicht zu einer Alibiaktion verkommt, sondern die eingebrachten Anregungen auch tatsächlich berücksichtigt. Damit die Zukunftskonferenz aber wirklich abhebt, ist ein entsprechendes politisches Bekenntnis aller politischen Akteur:innen Grundvoraussetzung. Die seit Beginn des Jahres am­tierende französische EU-Ratspräsidentschaft unter Emmanuel Macron sowie die neue deutsche Ampelkoalition sollten der Debatte wieder neue Dynamik verleihen. Noch kennzeichnet die Konferenz ein zögerliches Abtasten. Es ist ein komplexes Konstrukt geworden, das hohe Ansprüche an sich stellt, aber bislang nicht ausreichend Aufmerksamkeit generiert. Dabei ist es gut, wenn Bürger:innendialoge und Plenarsitzungen in Straßburg und Brüssel stattfinden. Noch besser wäre es aber, würden diese auch in 270 europäische Regionen getragen, um vor Ort die Menschen einzubinden und Schwellenängste zu nehmen. Die Zukunftsdebatte sollte umfassend angelegt, breite Bevölkerungsgruppen und unterschiedlichste Gruppen der Zivilgesellschaft sollten noch stärker motiviert werden, sich einzubringen. Alternativformate, wie Online-Diskussionen, aber auch niederschwelligere Angebote könnten gerade in Corona-Zeiten ihren Beitrag leisten. Wobei neben der europäischen und nationalen Ebene natürlich auch regionale und kommunale Initiativen gefragt sind.

Österreichs Zukunftstour

Österreich ist in diesem Bereich übrigens durchaus Vorreiter und Treiber der Debatte. Über 1.000 EU-Gemeinderät:innen, eine Vielzahl engagierter Schulen und aktive Nichtregierungsorganisationen zeigen das Potenzial der Zukunftsdebatte auf. Es müsste nur noch weiter gehoben werden. Die Zivilgesellschaft mobilisiert und versucht den vielen Ideen öffentlichen Raum zu geben. Diese sollten auch von der österreichischen Europapolitik ernst genommen werden und in ihre Positionierung einfließen.
Wie ein leicht zugänglicher Austausch über Europa funktionieren könnte, haben die Österreichische Gesellschaft für Euro­papolitik und die Vertretung der EU-Kommission in Österreich in ihrer seit vergangenem Mai laufenden „EU-Zukunftstour” ausprobiert, bei der es mit Bahn und Fahrrad durch alle Bundesländer ging. In über 650 persönlichen Gesprächen und Begegnungen haben wir auf einer Radstrecke von 1.900 Kilometern konstruktive Kritik und neue Impulse gesammelt, die in die Zukunftsdebatte einfließen werden. Begleitet wurde diese Aktion durch spezifische Meinungsumfragen in den Bundesländern. Diese zeigen, dass eine breit geführte Diskussion über Europa durchaus geschätzt wird – wenn sie denn auch zu konkreten Ergebnissen – zumindest vor dem russischen Angriff auf die Ukraine – führt. Weiters wurde deutlich, dass die Österreicher:innen die Eindämmung der Corona-Pandemie und ihrer Folgen als wichtigste Priorität für die EU sehen, gefolgt vom Klima- und Umweltschutz und der Verringerung der Kluft zwischen Arm und Reich.

Europäische Erfolge

Während wir über die Zukunft diskutieren, versuchen wir gleichzeitig, konkrete Probleme zu lösen. Denn Europa steht nicht still und wächst mit jeder Herausforderung. Die gemeinsame Impfstoffbeschaffung war viel Kritik ausgesetzt, aber letztlich ein europäischer Erfolg. Alleine hätte Österreich das nicht geschafft. Die europäische Reaktion auf die Verwerfungen der Coronakrise war wesentlich effizienter und umfassender als noch in der Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Europäische Zentralbank hat sehr rasch die Finanzierung der EU-Länder sichergestellt, die EU-Kommission hat die Kurzarbeit in den EU-Ländern finanziell unterstützt, um eine Massenarbeitslosigkeit zu vermeiden. Auch die gemeinsame Bereitschaft, einen europäischen Corona­Wiederaufbaufonds aufzulegen, hilft dabei, die Corona-Folgen abzumildern und gleichzeitig in eine grüne und digitale Transformation der Wirtschaft zu investieren. Und Europa wird mit seinen engagierten Klimazielen, die mit konkreten Gesetzesvorgaben unterlegt sind, zum globalen Vorreiter im Kampf gegen den Klimawandel. Handfeste Erfolge stehen also noch so manchen europäischen Baustellen – etwa die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – gegenüber. Wobei der Krieg in der Ukraine zeigt, dass die EU gerade hier aktiv wird.

Die Jungen einbinden

Die Debatte über die Zukunft Europas muss parallel dazu geführt werden, um in einer gesellschaftlich und kulturell vielfältigen EU auch die mittelfristige Integrationsrichtung klar abzustecken. Besonders wichtig ist es hier, ,jungen” Anliegen noch stärker Gehör zu schenken, denn gerade für die junge Generation waren die letzten beiden Jahre eine Zäsur. Neben der erzwungenen Begrenzung sozialer Kontakte bedeutete die Pandemie eine massive Einschränkung ihrer Lebenschancen. Grenzüberschreitender Mobilität, ein Sinnbild des europäischen Zusammenwachsens, wurde – nicht nur im Wortsinn – Schranken gesetzt. Auch nach dem Ende der Pandemie werden der Klimawandel und die sicherheitspolitische Lage in Europa das Leben junger Menschen spürbar beeinflussen. Grund genug, sie mehr denn je in die Ausgestaltung der europäischen Zukunft einzubinden – nicht als Feigen­blatt, sondern als ernst zu nehmende Akteur:innen.
Die Zukunftsdebatte sollte die direkt­demokratische Mitbestimmung auf europäischer Ebene neu definieren. Die Europawahlen 2024 wären die Gelegenheit dazu: Transeuropäische Wahllisten, eine Direktwahl der EU-Kommissionspräsidentin/des EU-Kommissionspräsidenten, ein europäisches Wahlalter ab 16 – so wie es in Österreich und Malta ja schon der Fall ist – würden dazu beitragen, das demokratiepolitische Fundament Europas weiterzuentwickeln und auch die Jungen stärker in die Politikgestaltung einzubinden.
Die Zukunftskonferenz darf sich nicht verzetteln, sondern braucht Mut, Ambition und politisches Engagement. In einer zunehmend unsicheren Welt muss ein unabhängiges und selbstbewusstes Europa Gemeinsamkeit zeigen, seine Werte hochhalten, Interessen verteidigen und auf die Innovationskraft seiner Bürger:innen setzen. Auf diese Pfeiler sollte die Zukunftsdebatte bauen, um zu nachhaltigen, handfesten Resultaten zu führen.