Wo bleibt eigentlich Europa? Ein Gastkommentar von Paul Schmidt
Europawahlkämpfe zeichnen sich hierzulande dadurch aus, dass nationale Themen nicht zu kurz kommen. Umgekehrt lässt sich das hingegen kaum behaupten. Auch im Vorfeld der Nationalratswahl werden Wirtschaft, Klima, Sicherheit oder Migration in ihrer europäischen und internationalen Dimension gerne vernachlässigt und in den allermeisten Konfrontationen der Spitzenkandidaten schlicht nicht thematisiert. Ziemlich kurzsichtig eigentlich, schließlich haben die Herausforderungen der vergangenen Jahre deutlich gemacht, dass Innenpolitik stets im größeren Zusammenhang gedacht und die europäische Ebene immer einbezogen werden muss, um zu nachhaltigen Lösungen und ehrlichen Antworten zu kommen. Auch die Tatsache, dass in allen Umfragen die EU-skeptische FPÖ konstant an der Spitze liegt, sollte dazu motivieren, Unterschiede herauszuarbeiten und die Frage zu stellen, ob das von den Freiheitlichen favorisierte „Modell Orbán“ Österreich allen Ernstes zum Vorteil gereichen würde. Das Ergebnis der Nationalratswahl und die folgende Regierungsbildung sind daher auch ein Gradmesser, wie sich Österreich künftig innerhalb der EU positioniert, ob es die Integration weiterentwickeln oder eben rückabwickeln möchte und was die Konsequenzen daraus wären.
Die Vorstellungen über Europa könnten unterschiedlicher nicht sein. Während die Neos den Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa – mit einer EU-Armee, transnationalen Listen im EU-Parlament und der Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip – skizzieren, propagiert die FPÖ eine Festung Europa und den Rückbau der Union, stellt den „wohlstandszersetzenden“ Green Deal oder die Zuständigkeiten des Europäischen Gerichtshofs infrage. Die ÖVP wiederum ist für eine Union, die sich den „großen Fragen“ widmet und Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit ins Zentrum stellt – ohne, wie es heißt, Überregulierung oder ideologiegetriebene Politik, was sich wohl auf Klima und Umwelt bezieht. Sie setzt auf eine abschreckende Linie bei Sicherheit und Migration, eine Themensetzung, die mit der überraschenden Bestellung von Magnus Brunner zum zuständigen EU-Kommissar um eine zusätzliche Facette erweitert wird. Im Programm der SPÖ, das das Bild Österreichs als „wichtigen Player“ auf EU-Ebene zeichnet, werden insbesondere Wirtschaft und Soziales in Bezug gesetzt. Eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Bürger und Arbeitnehmerrechte sollte in den Vordergrund rücken, ebenso ein „Grüner Deal mit rotem Herz“ – jedoch ja kein Freihandelsabkommen wie Mercosur. Die Grünen plädieren, wenig überraschend, für eine ambitioniertere Transformation der europäischen Wirtschaft, streben eine EU mit mehr Gestaltungsraum an, welche auf ein höheres Budget zurückgreifen kann, fordern eine Aufwertung des EU-Parlaments und legen ihr Augenmerk auf eine „menschliche“ Asylpolitik sowie den Kampf für Gleichstellung und gegen Rechtsextremismus.
An Konzepten über die Zukunft der EU mangelt es also nicht. Die Parteien wären gut beraten, die Menschen diese auch wissen zu lassen. Denn der Ausgang der Wahl hat eben nicht nur Auswirkungen zwischen Neusiedler und Bodensee, sondern auch darauf, wie die EU in die nächsten fünf Jahre startet und welchen Beitrag Österreich konkret leistet. Und dass man mit dem Blick über den nationalen Tellerrand keine Wahlen gewinnen kann, sollte eigentlich auch längst widerlegt sein.
(Paul Schmidt, Die Presse 25.09.2024)