Handlungsempfehlungen
- Die bisherigen Integrationseffekte sollten vor allem in Österreich mehr geschätzt werden.
- Österreich könnte durch mehr Engagement für Europa noch mehr aus der EU-Mitgliedschaft herausholen.
- Die Politik ist gefordert, die Bevölkerung stärker als bisher über die Vorteile der EU-Mitgliedschaft aufzuklären.
Zusammenfassung
Am 1. Jänner 2025 sind Österreich, Finnland und Schweden seit 30 Jahren Mitglied der Europäischen Union (EU). Während alle drei Länder mit dem Beitritt auch am Binnenmarkt der EU teilnehmen, hat Österreich sofort alle weiteren Integrationsschritte (Schengen 1997 und Euro 1999), Finnland etwas verzögert (Schengen 2001; Euro 1999) mitgemacht. Schweden (Schengen 2001) hat bis heute den Euro verweigert. Die drei Länder haben sich aber seit 1995 unterschiedlich entwickelt. Gemessen am realen Bruttoinlandsprodukt bzw. Bruttoinlandsprodukt pro Kopf überholten die skandinavischen Länder Österreich. Andererseits zeigen fast alle Integrationsstudien, dass Österreich – hauptsächlich wegen seiner stärkeren Handelsverflechtung mit der EU – am meisten vom EU-Beitritt profitiert hat. Neben diesem Widerspruch gibt es noch ein Paradoxon. Im Gegensatz zu Finnland und Österreich unterschätzt die österreichische Bevölkerung laut Eurobarometer-Umfragen die geschätzten EU-Integrationseffekte. Dieses Rätsel ist schwer erklärbar.
Österreich, Finnland und Schweden 30 Jahre in der EU mit unterschiedlichem Erfolg
1. Unterschiedlich erfolgreiches Hineinwachsen in die EU
Österreich, ebenso wie Finnland und Schweden haben sich schrittweise an die Europäische Union (EU) angenähert. Als Mitglieder der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) waren sie in den sechziger Jahren gegenüber der Zollunion Europäische Gemeinschaft (EG) diskriminiert. Die Freihandelsabkommen EG-EFTA von 1973 führten zu einer Normalisierung und einem deutlichen handelsschaffenden Effekt – besonders in Österreich. Nach der einjährigen Zwischenstation im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) im Jahr 1994, erfolgte der große Schritt des EU-Beitritts im Jahr 1995[1]. Während Finnland und Österreich auch von Beginn an Mitglieder der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) wurden und den Euro einführten, verweigert Schweden bis heute den Euro. Dem Schengen-Abkommen sind alle drei Länder (Österreich bereits 1995; Finnland und Schweden 1996) beigetreten. Die große EU-Erweiterung ab 2004 im Gefolge der Ostöffnung 1989 hat gerade Österreich in der Nachbarschaft neue Absatzmärkte beschert.
Abbildung 1: Unterschiedliche Wirtschaftsentwicklung nach 30 Jahren EU-Mitgliedschaft
(BIP real und BIP pro Kopf, real: Index 1995=100)
Quelle: AMECO Datenbank der Europäischen Kommission, November 2024
Dennoch erstaunt, dass gesamtwirtschaftlich die skandinavischen Länder erfolgreicher waren als Österreich. Abbildung 1 zeigt, dass sich sowohl das reale BIP als auch das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf seit dem EU-Beitritt in den skandinavischen Ländern deutlich dynamischer entwickelt hat als in Österreich. Das reale BIP stieg in den 30 Jahren EU-Mitgliedschaft in Schweden um 97 %, in Finnland um 76 % und in Österreich nur um 63 %. Das entspricht jährlichen Wachstumsraten von 2,2 %, 1,8 % bzw. 1,6 %. Ein ähnliches Bild zeigt die Entwicklung des Wohlfahrtsmaßstabs reales BIP pro Kopf. Nach 30 Jahren EU-Mitgliedschaft lag es in Schweden um 63 %, in Finnland um 59 % über dem Ausgangspunkt, in Österreich um 41 %. Das heißt, dass in diesem Zeitraum der Wohlstand in den skandinavischen Ländern jährlich um 1,6 % gewachsen ist, in Österreich nur um 1,1 %.
Dennoch erstaunt, dass gesamtwirtschaftlich die skandinavischen Länder erfolgreicher waren als Österreich.
Alle drei Länder waren von zwei großen Krisen erschüttert: die große Rezession 2009 im Gefolge der globalen Finanzkrise und der Schock der COVID-19-Krise 2020. Während im Jahr 2009 die Rezession in Finnland (reales BIP -8,1 %) und Schweden (-4,3 %) stärker ausfiel als in Österreich (-3,6 %), war der Wirtschaftseinbruch in der Corona-Krise 2020 in Österreich
(-6,3 %) viel dramatischer als in Finnland (-2,5 %) und Schweden (-2,0 %).
Eine breitere Analyse der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung anhand von 22 makroökonomischen Indikatoren (siehe Breuss, 2025, Tabelle 4.1) ergibt, dass Schweden in der Periode 1995-2025 14 Mal bestes Land war, Österreich sechsmal und Finnland zweimal. Österreich war vor allem besser als die anderen bezüglich der Arbeitslosigkeit und des Anteils des Intra-EU-Handels. Schweden punktete beim Wirtschafswachstum, beim Wachstum der Produktivität, der Inflation und dem Leistungsbilanzsaldo. Finnland konnte hauptsächlich mit einem niedrigen Budgetsaldo punkten, Schweden hatte zuletzt mit 32 % des BIP die niedrigste Staatsverschuldung der drei Länder (Österreich 2025: 81 %, Finnland 85 %).
Interessant ist ein Vergleich der Periode der EU-Mitgliedschaft (1995-2025) mit der Periode vor dem EU-Beitritt (1970-1994). Hier gewinnt Österreich mit 12 besten Plätzen von 21 Indikatoren, gefolgt von Finnland mit sechs und Schweden mit nur drei. Österreich dominierte beim Wirtschaftswachstum, der Inflation, der Arbeitslosigkeit, dem Leistungsbilanzsaldo und dem Anteil des Intra-EU-Handels. Finnland war führend im Wachstum der Produktivität und hatte im Durchschnitt einen Budgetüberschuss.
Heißt dies, dass Österreich ein Verlierer der EU-Integration war? Eher könnte man aus dem oben ausgebreiteten Befund der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung den nüchternen Schluss ableiten, dass die österreichische Wirtschaftsentwicklung seit 1995 ohne EU-Mitgliedschaft im Vergleich zu Finnland und Schweden noch schlechter verlaufen wäre.
Aber die skandinavischen Länder entwickeln sich nicht nur gesamtwirtschaftlich dynamischer als Österreich, auch gemessen an vielen anderen – vor allem zukunftsweisenden Indikatoren – stehen sie an der Spitze. Finnland und Schweden liegen bei den meisten Analysen bezüglich Wettbewerbsfähigkeit und Informationstechnologien in Führung. Sie weisen auch bessere Werte bezüglich Klimapolitik und Vermeidung des Ausstoßes von Treibhausgasen aus als Österreich.
2. Zunehmende Handelsintegration Österreichs in den EU-Binnenmarkt
Der Binnenmarkt ist das Herzstück der EU-Integration. 1993 gestartet, ist er immer noch unvollkommen. Zahlreiche Reformschritte – von der Dienstleistungsrichtlinie bis zu immer neuen Binnenmarktverbesserungen – sollen ihn noch robuster machen. Eine Grundvoraussetzung dafür, dass der EU-Binnenmarkt annähernd gleich gut funktionierte wie jener der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) wäre, dass alle 27 Mitgliedstaaten auch den Euro einführten. Davon abgesehen frönt die Europäische Union dem Motto „in Vielfalt geeint“ (24 Amtssprachen). Der „Euro für alle“ (siehe Breuss, 2019) ist immer noch ein offenes Ziel. Dass erst 20 Mitglieder der EU den Euro eingeführt haben, stört – durch mögliche Abwertungen der Währungen der Nicht-Euro-Länder – den Zusammenhalt und das effektive Funktionieren des EU-Binnenmarktes.
Österreich hat durch mehrfache Änderungen der europäischen Integration und von welthistorischen Ereignissen (Ostöffnung 1989) profitiert. Die erste große Erleichterung bewirkten die Freihandelsabkommen EG-EFTA von 1973. Die dadurch erfolgte Liberalisierung und Verwirklichung eines großen Freihandelsraumes EG-EFTA ab Mitte 1977 kehrte den Nachteil der Diskriminierung der EFTA-Mitglieder auf dem EG-Markt der sechziger Jahre in einen Vorteil um. Wie Abbildung 2 zeigt, stieg dadurch der Anteil der Intra-EU-Exporte Österreichs stetig an, während er in den skandinavischen Ländern weiter sank. Der nächste Impuls setzte ein, als nach der Ostöffnung 1989 die EU mit den osteuropäischen Ländern (CEEC) Europaabkommen abschloss. Diese bewirkten eine asymmetrische Handelsliberalisierung EU-CEEC. Wiederum profitierte Österreich davon. Die nächsten Ereignisse waren der EU-Beitritt 1995 und die große EU-Erweiterung ab 2004. Dadurch bekam die österreichische EU-Integration handelspolitisch einen neuen Schub. Der Anteil der Intra-EU-Exporte stieg auf über 70 %. Seither stabilisierte er sich auf diesem Niveau. In Finnland und Schweden hat lediglich der EU-Beitritt eine leichte Zunahme des Anteils der Intra-EU-Exporte gebracht. Die Ostöffnung 1989 war für Finnland durch den Zusammenbruch des Russlandhandels für Österreich ebenso bitter, wie süß. Die EU-Erweiterung ab 2004 führte in den beiden skandinavischen Ländern eher zu einer Abnahme der Exportverflechtung mit der EU (siehe Abbildung 2).
Österreich hat durch mehrfache Änderungen der europäischen Integration und von welthistorischen Ereignissen (Ostöffnung 1989) profitiert.
Abbildung 2: In Österreich steigende, in Finnland und Schweden stagnierende Handelsintegration in den EU-Binnenmarkt
(Intra-EU-Exporte von Waren in % der Gesamtexporte)
Quelle: AMECO Datenbank der Europäischen Kommission, November 2024
Der Handelsradius der drei Länder, die 1995 der EU beigetreten sind, ist – nicht zuletzt wegen der geografischen Lage – unterschiedlich. Österreich ist seit der EU-Erweiterung (mit Ausnahme der Schweiz) von sechs EU-Mitgliedstaaten umgeben. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Anteil der Exporte mit der EU27 69 %, jener der Importe 79 % beträgt. Deutschland ist mit 29 % (Exporte) und 38 % (Importe) der wichtigste Handelspartner, gefolgt von Italien (jeweils 6 %). In Finnland ist der Anteil der Exporte mit der EU27 mit 55 % und der Importe mit 53 % bereits bedeutend kleiner. Auch hier dominiert Deutschland mit jeweils 12 % als wichtigster Handelspartner, aber bereits dicht gefolgt vom Nachbar Schweden (mit 11 %). Ein ähnliches Bild weist Schweden mit einem Exportanteil mit der EU27 von 53 % (Importanteil 63 %) auf. Wichtigste Handelspartner auf der Exportseite sind der Nachbar Norwegen (11 %), gefolgt von Deutschland (10 %). Auf der Importseite ist das Verhältnis gerade umgekehrt (Deutschland 15 %, Norwegen 12 %).
Der Handelsradius der drei Länder, die 1995 der EU beigetreten sind, ist – nicht zuletzt wegen der geografischen Lage – unterschiedlich.
3. Evaluierung der EU-Mitgliedschaft – Österreich Gewinner
Eine EU-Mitgliedschaft verläuft fast in allen Fällen ähnlich. Im Vorfeld erhoffen sich die Beitrittskandidaten „Milch und Honig“ von einer EU-Mitgliedschaft. Nach dem erfolgten Beitritt endet der Honeymoon bald in Ernüchterung. Die ex-ante-Schätzungen von Integrationseffekten vor einem Beitritt werden meist – sowohl was das Potential der Handelsschaffung als auch der Wohlfahrtssteigerung (BIP-Wachstum) anlangt – überschätzt. Im Vorfeld kann man sich nur auf mögliche theoretische Integrationseffekte stützen.
Die Bewertungen nach dem Beitritt (Ex-post-Studien) können zwar auf bereits erzielte (mögliche) Integrationseffekte zurückgreifen, sind aber auch nicht ganz einfach. Nach einem Integrationsschritt – wie im Falle von 30 Jahren EU-Mitgliedschaft – gilt es, die reale Entwicklung (siehe oben in Abbildung 1) von einer fiktiven (ohne EU-Mitgliedschaft) zu isolieren. Das kann auch nur durch Schätzungen mit den verschiedensten Ansätzen bewerkstelligt werden. In beiden Fällen gibt es eine Vielzahl von Methoden, die meisten stützen sich auf handelsbasierte Effekte für die Wohlfahrt. Dazu zählen Gravitationsgleichungen, numerische allgemeine Gleichgewichtsmodelle, makroökonomische Ansätze und Schätzungen mittels synthetischer Kontrollmethode (SCM).
Die Bewertungen nach dem Beitritt (Ex-post-Studien) können zwar auf bereits erzielte (mögliche) Integrationseffekte zurückgreifen, sind aber auch nicht ganz einfach
Tabelle 1: Eine Auswahl von Ex-post-Schätzungen von Integrationseffekten
CGE = rechenbares allgemeines Gleichgewichtsmodell (computable general equilibirum); DSGE = dynamisches stochastisches allgemeines Gleichgewichtsmodell; SCM = synthetische Kontrollmethode; EU-BM = EU-Binnenmarkt.
Quelle: Breuss (2025), Kapitel 12 mit einer längeren Liste von Integrationsstudien.
In Tabelle 1 ist eine Auswahl von Integrationsstudien aufgeführt. Zunächst sind Schätzungen mit einer Wachstumsgleichung (Breuss, 2020A) und Makromodellen (2020B, 2022 mit update 2025) erwähnt. Zum einen handelt es sich um kumulative Werte des realen BIP (oder BIP pro Kopf) in Prozentpunkten als Abweichungen von der Basislösung (ohne EU-Mitgliedschaft), zum anderen um durchschnittliche jährlichen Wachstumsraten. In den genannten Studien liegt Österreich mit Finnland fast gleich auf, Schweden ist an letzter Stelle.
Die BIP-Schätzungen mit einem einfachen Makromodell (Breuss, 2022, update 2025) setzten sich aus den folgenden Teileffekten zusammen: (1) Handelseffekte aus der Teilnahme am EU-Binnenmarkt seit 1995, der Einführung des Euro (1999 bzw. 2002) und Effekte durch die EU-Erweiterungen ab 2004; (2) Wettbewerbseffekte durch Teilnahme am Binnenmarkt; (3) Einkommenseinbußen durch die Tatsache, dass alle drei Länder Nettozahler in den EU-Haushalt sind (im Durchschnitt 1995-2025: Österreich, Finnland, Schweden). Das einfache Makromodell (Breuss, 2022) liefert insgesamt etwas niedrigere Effekte als das umfangreiche Makromodell von Breuss (2020B), das alle vier Freiheiten des Binnenmarktes berücksichtigt und den Binnenmarkt daher etwas höher bewertet als das einfache Modell. Die niedrigeren Effekte Schwedens gehen auch darauf zurück, dass Schweden den Euro noch nicht übernommen hat.
Die Ergebnisse der Makromodelle müssen wie folgt interpretiert werden. Nach jedem Integrationsschritt (EU-Beitritt 1995, WWU-Teilnahme 1999 und Einführung des Euro 2002, sowie EU-Erweiterungen ab 2004) kommt es jeweils (vorübergehend) zu einem sprunghaften Anstieg des realen BIP, der dann ohne weitere Integrationsschritte wieder abflacht. D. h. die wirtschaftliche Integration führt nicht – wie von einigen Wachstumstheoretikern postuliert wird – zu einem dauerhaften (steady-state) Anstieg der Wachstumsraten des realen BIP. Die in Tabelle 1 angeführten jährlichen Wachstumsraten sind Jahresdurchschnitte über die jeweilige Schätzperiode. Eine Verifizierung dieser Aussage bietet die Studie von Andersen et al. (2019). Mit Wachstumsgleichungen versuchen die Autor:innen das jährliche Wirtschaftswachstum (reales BIP pro Kopf) mit den üblichen Variablen plus Dummy-Variablen für die EU-Mitgliedschaft zu erklären. Erstaunlicherweise finden sie keinen signifikanten Einfluss der Europäischen Integration auf das Wirtschaftswachstum. Ihre Schlussfolgerung lautet: „This paper has been unable to reject the null hypothesis that EU membership has zero impact on economic growth”.
In Abbildung 3 sind die Ergebnisse der SCM-Schätzung (Breuss, 2025) für die drei Länder zu sehen. Österreich hat demnach von den drei Ländern am meisten von der EU-Mitgliedschaft profitiert hat. Im Falle Österreichs waren das, Ende 2023 rund 15.000 USD (real zu Preisen von 2017), in Finnland unter 7.000 USD und in Schweden nur rund 3.000 USD. Dies entspricht einem jährlichen zusätzlichen Wachstum des realen BIP pro Kopf (zu Kaufkraftparitäten in USD von 2017) von 1.3 % vor Finnland (0.5 %) und Schweden (0.2 %).
Abbildung 3: Österreich hat mehr von 30 Jahren EU-Mitgliedschaft profitiert als Finnland und Schweden (SCM-Schätzung)
(Wohlfahrtseffekte: Reales BIP pro Kopf in 1000 USD)
SCM = synthetische Kontrollmethode
Quelle: Breuss (2025), Kapitel 12.2.5.
Die nächsten in Tabelle 1 angeführten Studien arbeiten mit Handelsmodellen (Felbermayr et al., 2018, 2022), mit numerischen allgemeinen Gleichgewichtsmodellen (Mion-Ponattu, 2019), mit dynamischen stochastischen allgemeinen Gleichgewichtsmodellen (DSGE; in’t Veld, 2019), mit einem strukturellen Gravitationsmodell (Oberhofer, 2019) und mit Binnenmarktindikatoren (London Economics, 2017). Mit Ausnahme von Mion-Ponattu (2019) und London Economics (2017) ermitteln alle Studien die Wohlfahrts- bzw. Einkommenseffekte der EU-Mitgliedschaft auf Basis von Handelsschaffung. Allen hier erwähnten Studien ist gemeinsam, dass Österreich jeweils der Gewinner der EU-Mitgliedschaft ist.
Felbermayr et al. (2018, 2022) untersuchen mittels in das ifo-Handelsmodell integrierten Gravitationsschätzungen die interessante theoretische Frage, wie Europa aussehen würde, wenn die EU rückabgewickelt werden würde („Undoing Europe“; Ergebnisse für die drei Länder in Tabelle 1)[2]. Mittels Dummy-Variablen werden die Zuwächse an realem Konsum (Wohlfahrtsmaßstab) geschätzt, die die wichtigsten Vertiefungsschritte der EU-Integration gebracht haben: (1) Zollunion (im Falle Österreichs 0,04 %), (2) Binnenmarkt (5,6 %), (3) Euro (0,88 %; statistisch nicht signifikant), (4) Schengen (1,55 %), (5) Aufhebung aller regionalen Freihandelsabkommen (0,02 %), (4) Gesamteffekt inklusive Transfers aus dem EU-Haushalt (7,57 %; siehe Tabelle 1). Den größten Verlust an Wohlfahrt (gemessen im Pro-Kopf-Einkommen oder am realen Konsum) würde die Auflösung des Binnenmarktes verursachen. Eine ähnliche Struktur der Teileffekte ergibt sich für Finnland und Schweden. Insgesamt werden in den Studien von Felbermayr et al., Mion-Ponattu, Mayer et al. und in’t Veld Integrationseffekte (nicht immer berücksichtigen sie die gleichen Teileffekte) für alle EU-Mitgliedstaaten plus einige Drittstaaten geschätzt. Ihre Effekte sind keine dynamischen Effekte, sondern einmalige Wachstumseffekte in mittlerer bis langer Frist. Die größten Gesamteffekte einer EU-Mitgliedschaft weist die Studie von Felbermayer et al. (2022) vorwiegend für die neuen Mitgliedstaaten aus: Malta (23 %), Ungarn (19 %), Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen und Slowakei jeweils 15 %; von den alten EU-Mitgliedstaaten ragen heraus Luxemburg
(19 %), Spanien (15 %), Belgien, Portugal, Irland jeweils rund 10 %. Der Durchschnitt von EU27 beläuft sich auf rund 11 %. Mit rund 8 % sind Österreich bzw. mit rund 6 % Finnland und Schweden unter dem EU-Durchschnitt.
Tabelle 1 enthält mit zehn Integrationsstudien nur eine Auswahl der in Breuss (2025, Kapitel 12) analysierten 22 Ex-post-Studien. Von der vollen Liste von Integrationsstudien ist Österreich in 18 Fällen an erster Stelle platziert (82 %). Nur in drei Studien (13 %) lag Österreich an zweiter Stelle und in nur einer Studie (5 %) an dritter Stelle. Im Gegensatz dazu lag Finnland in nur 14 % aller Studien auf dem ersten Platz, in 36 % auf Platz eins und in 50 % auf Platz drei. In Schweden dominiert der dritte Platz mit 50 % aller Studien, mit 41 % auf Platz zwei und nur mit 9 % auf Platz eins.
Aus der Vielzahl der Integrationsstudien lässt sich eine robuste Faustregel für Österreich ableiten. 30 Jahre EU-Mitgliedschaft hat bewirkt, dass das österreichische reale BIP im Durchschnitt pro Jahr um ungefähr ½ Prozentpunkt stärker gewachsen ist also ohne EU.
4. EU-Mitgliedschaft ist mehr als nur mehr Handel
Wie bereits mehrfach erwähnt, beruhen die meisten Schätzungen der Integrationseffekte auf der Annahme, dass die EU-Mitgliedschaft (im Wesentlichen die Teilnahme am Binnenmarkt) lediglich mehr gemeinsamen Handel bedeutet. Doch Mitglied der EU zu sein bedeutet weit mehr als nur Handel. Bereits der Vertrag von Lissabon (in Kraft seit 1. Dezember 2009) legt die grundlegenden Ziele der Union fest. In der Präambel des Vertrags über die Europäische Union (EUV) werden die grundlegenden Ziele der EU definiert. Hier eine Auswahl:
- die Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents
- die Achtung der Menschenrechte, der Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit
- Europäische Sozialcharta
- Stärkung der Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Kultur und ihrer Traditionen
- Demokratie und Effizienz in der Arbeit der Institutionen weiter verbessern
- Konvergenz ihrer Volkswirtschaften und Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion einschließlich einer einheitlichen und stabilen Währung („Euro“)
- Verwirklichung des „Binnenmarktes“ sowie die Stärkung des Zusammenhalts und des Umweltschutzes im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung
- eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik einschließlich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik
- Freizügigkeit unter gleichzeitiger Gewährleistung der Sicherheit ihrer Bürger durch Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
- die Schaffung „einer immer engeren Union“ der Völker Europas, in der Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden.
Der wirtschaftliche Kern der EU-Integration ist seit 1993 die stetige Verbesserung des Binnenmarktes und die Erweiterung der Eurozone. Seit der ersten Amtszeit der Europäischen Kommission unter Führung von Ursula von der Leyen (2019-2024), hat sich der Schwerpunkt stark auf das Umweltthema verlagert. Mit dem „Europäischen Green Deal“ wurden Initiativen angestoßen, die zwar zukunftsweisend sind, aber auch viele bürokratische Hürden wegen komplexer Berichtspflichten (z. B. Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD), Lieferkettenregelung (CSDDD), Regelung digitaler Dienste (DAS), CO2-Grenzausgleichsregelung (CBAM)[3]) aufgebaut hat, die für die europäische Industrie zunehmend zur Belastung wurden. Weil viele Regeln nicht nur für die Akteur:innen im EU-Binnenmarkt gelten, sondern auch in Drittstaaten Wirkung entfalten, spricht man oft auch vom „Brüssel-Effekt“. Allerdings kursiert in diesem Zusammenhang vielerorts das Bonmot, dass die USA und China innovieren und die EU reguliert.
Der wirtschaftliche Kern der EU-Integration ist seit 1993 die stetige Verbesserung des Binnenmarktes und die Erweiterung der Eurozone.
In jüngster Zeit verliert die EU mehr und mehr an globaler Wettbewerbsfähigkeit, ein Befund, den auch Draghi (2024) in seinem jüngsten Report betont[4]. Dies gilt nicht nur für den IT-Bereich, wo die globalen Player in den USA beheimatet sind, sondern auch drastisch spürbar im Bereich des Fahrzeugbaus, wo Europa (vor allem Deutschland) lange führend war. China überrollt nun den europäischen Markt mit billigen Elektro-Autos. Ob die seitens der EU per 1. November 2024 eingeführten Ausgleichszölle wegen ungerechtfertigter Subventionen auf chinesische Elektroautos die Krise im deutschen Automobilsektor helfen wird, ist mehr als zweifelhaft.
Die seit 2024 neu bestellte Europäische Kommission dürfte deshalb den bisherigen einseitigen Schwerpunkt „Green Deal“ sowohl wegen der Kritik seitens der Wirtschaft als auch auf Grund der vehementen Betonung der Überlebensnotwendigkeit der Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit im Draghi-Report wohl zugunsten letzterer Priorität verlagern. Dass vor allem die Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit der neue Fokus der Arbeit der neuen Kommission sein wird, hat sowohl Ursula von der Leyen in den „Politischen Leitlinien 2023-2029“[5] bekräftigt und kommt auch in der „Budapest Declaration on the New European Competitiveness Deal“[6] des Europäischen Rates vom 8. November 2024 zum Ausdruck.
Manche andere (vor allem die neuen) Mitgliedstaaten empfinden die immer weitere politische Einigung der EU als Belastung.
Etliche der in der Präambel des EUV angeführten hehren Ziele der EU – insbesondere die politischen – sind vielen Mitgliedstaaten bereits zu viel. Das gilt vor allem dem Ziel durch „eine immer engere Union“ die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen. Hier hat die britische Bevölkerung im Brexit-Referendum 2016 und dem endgültigen Austritt aus der EU im Jahre 2021 die Bremse gezogen. Manche andere (vor allem die neuen) Mitgliedstaaten empfinden die immer weitere politische Einigung der EU als Belastung. Prominentes Beispiel ist Ungarn, das mehr und mehr auf Eigenständigkeit setzt.
5. Österreicher:innen unterschätzen die EU-Integrationserfolge
Die zunehmende Vertiefung der EU-Integration hätte die Zufriedenheit mit der EU erhöhen müssen. Das war jedoch insgesamt nicht der Fall. Im Gegensatz dazu sieht man eine große Diskrepanz zwischen wahrgenommenem und tatsächlichem Nutzen der EU-Integration in den EU-Mitgliedstaaten. Dieses „Integrations-Rätsel“ bezieht sich also auf den Widerspruch bzw. der Fehleinschätzung zwischen den messbaren wirtschaftlichen Erfolgen der EU-Integration und der Zustimmung (oder Ablehnung) zur EU durch die Bürger:innen der Mitgliedsstaaten in Eurobarometer-Umfragen.
Auf die Frage QA9 im Eurobarometer (2023), ob ein Land von der EU-Mitgliedschaft profitiert hat, antworten die Österreicher:innen mit dem niedrigsten Wert aller EU-Mitgliedstaaten, nämlich mit 55 %, Finnland hingegen mit 80 % und Schweden immerhin mit 73 %. Der EU-Durchschnitt liegt bei 72 %. Auf die Frage QA7, ob die EU-Mitgliedschaft eine gute oder eine schlechte Sache ist, antworten die Österreicher:innen mit 42 % „gute Sache“ (und damit wieder an letzter Stelle), mit 22 % eine „schlechte Sache“ (der Rest ist unentschieden). In Finnland sehen die Menschen die EU mit 79 % als „gute“ und nur mit 4 % als „schlechte Sache“. In Schweden sind die Antworten ebenfalls mit 77 % „gute Sache“ und
9 % „schlechte Sache“ weit vor Österreich und dem EU-Durchschnitt (61 % „gute“ und 10 % „schlechte Sache“). Wie man aus Tabelle 1 sieht, hat aber Österreich von der EU-Mitgliedschaft tatsächlich mehr profitiert als Finnland und Schweden.
Anhand von speziellen Fragen im Eurobarometer (2023) kann man versuchen das „Integrationsrätsel“ (das Auseinanderlaufen von gefühlten und tatsächlichen Integrationseffekten) aufzuklären. Die Frage nach den Gründen, warum die Menschen in den EU-Mitgliedstaaten glauben, dass sie nicht von der EU-Mitgliedschaft profitiert haben, kann einiges im Falle Österreich aufklären. In Österreich ist das Migrationsproblem einer der wichtigsten Gründe, weil die Bevölkerung der Meinung ist, dass die EU-Mitgliedschaft die Kontrolle der Außengrenzen untergräbt (33 %). Ein ähnlicher Prozentsatz der österreichischen Bevölkerung ist der Meinung, dass für sie wichtigen Fragen am besten an der nationalen Grenze geregelt werden (33 %). Ebenfalls negativ ist der Eindruck, dass die österreichische Bevölkerung nur wenig Einfluss auf Entscheidungen auf EU-Ebene hat (32 %). Absurderweise glauben die Österreicher:innen, dass die EU die Arbeitsplätze der Menschen gefährdet (28 %). In Finnland sind 50 % der Bevölkerung der Meinung, dass sie wenig Einfluss auf die Entscheidungen der EU haben. 49 % wollen über wichtige Fragen auf nationaler Ebene entscheiden. 32 % sind der Meinung, dass die nationale Regierung sehr wenig Einfluss auf Entscheidungen auf EU-Ebene hat. In Schweden ist die schrumpfende Entscheidungsbefugnis in nationalen Fragen der Hauptgrund für die Ansicht, dass die EU-Mitgliedschaft nicht von Vorteil ist (55 %). Ein ähnlich hoher Anteil (52 %) ist der Meinung, dass sie wenig Einfluss auf Entscheidungen auf EU-Ebene haben. An dritter Stelle steht mit jeweils 31 % die Aussage, dass die Regierung sehr wenig Einfluss auf Entscheidungen auf EU-Ebene hat und dass es dem eigenen Land besser gehen könnte, wenn es nicht in der EU wäre.
Der Ausreißer Österreich bezüglich der Fehleinschätzung des tatsächlichen Nutzens der EU-Mitgliedschaft könnte auch mit der weit verbreiteten Wissenschaftsskepsis zusammenhängen. Die von Wissenschaftler:innen errechneten Wohlfahrtswirkungen der EU-Mitgliedschaft wird mit Skepsis begegnet. Positiv gewendet, könnte man die EU-Skepsis bezüglich der kolportierten Integrationseffekte auch so interpretieren, dass die Bevölkerung den Schätzungen der Expert:innen nicht ganz glaubt und die Wohltat, ein EU-Mitglied zu sein nur daran misst, wie sich die Wirtschaft tatsächlich entwickelt hat; und die war wie in Abbildung 1 gezeigt, weniger dynamisch als jene der beiden skandinavischen Länder. Insofern wären die Österreicher:innen eher Realist:innen als Phantast:innen!
Der Ausreißer Österreich bezüglich der Fehleinschätzung des tatsächlichen Nutzens der EU-Mitgliedschaft könnte auch mit der weit verbreiteten Wissenschaftsskepsis zusammenhängen.
Regelmäßige Befragungen der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) zeigen, dass die EU-Zustimmung in Österreich relativ stabil ist. Kurz nach der Wahl zum Europaparlament im Juni kam es zu einem Anstieg der EU-Befürworter:innen. 76 Prozent der Befragten waren für die EU-Mitgliedschaft, 17 % konnten sich einen Austritt vorstellen[7]. Allerdings ist die Zustimmung laut Befragung vom Dezember 2024 auf 60 % gesunken (Schmidt, 2024). Die höchsten Zustimmungswerte gab es im November 1999 mit 82 % und im Juli 2002 mit 80 %. In der Befragung der ÖGfE anlässlich 30 Jahre EU-Mitgliedschaft vom Dezember 2024 (Schmidt, 2024) wurde auch ermittelt, wer in Österreich am meisten von der EU-Mitgliedschaft profitiert hat: vor allem die großen Unternehmen sind die Gewinner. Die Bilanz für kleine und mittlere Unternehmen fällt gemischt aus. Nach Selbsteinschätzung haben die Landwirt:innen am wenigsten profitiert. Während die jungen Menschen (vor allem Studtent:innen wegen diverser Austauschprogramme, z. B. Erasmus) und Arbeitnehmer:innen (dank des freien Personenverkehrs in der EU) die EU-Mitgliedschaft positiv sehen, scheint sich für die Pensionist:innen nichts geändert zu haben. Die Einführung des Euro und die Abschaffung der Pass- und Grenzkontrollen (Schengen) wird insgesamt sehr positiv bewertet. Insgesamt ergibt sich aus der ÖGfE-Befragung, dass ein „Öxit“ von der österreichischen Bevölkerung mehrheitlich nicht gewünscht wird. Auch Felbermayr und Heiland (2024) kommen in ihrer Bewertung des ökonomischen Nutzens der EU für Österreich zum Befund, dass ein „Öxit“ – nicht zuletzt wegen der negativen Erfahrungen nach dem „Brexit“ – derzeit eher unwahrscheinlich ist. Um zu verhindern, dass der „Öxit“ politisch dennoch irgendwann passiert[8], fordert Felbermayr (2024) in seinem Buch: „Die EU muss sich rechnen“.
- Wie geht es weiter mit der EU?
Die vierte EU-Erweiterung um Österreich, Finnland und Schweden am 1. Jänner 1995 war die letzte EU-Erweiterung, mit der die EU im Durchschnitt reicher wurde. In allen folgenden Erweiterungen kam es zur Aufnahme von ausnahmslos armen Staaten, wodurch sich die schon länger bestehende Einkommenslücke zu den USA noch vergrößerte. Die noch in der Pipeline wartenden Beitrittskandidaten sind ebenfalls allesamt arm und im Falle von Georgien, Moldau und der Ukraine politisch heikel. Auch die verbleibenden Beitrittskandidaten im Westbalkan müssen kritisch gesehen werden, obwohl sie ohne EU-Beitritt „Opfer“ von Expansionswünschen Chinas und Russlands werden würden. Der jüngste Erweiterungsbericht der Europäischen Kommission (2024) befasst sich mit zehn beitrittswilligen Ländern: Georgien (Beitrittsprozess ausgesetzt), Moldau, Türkei, Ukraine und die sechs Westbalkanstaaten Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien.
In allen folgenden Erweiterungen kam es zur Aufnahme von ausnahmslos armen Staaten, wodurch sich die schon länger bestehende Einkommenslücke zu den USA noch vergrößerte.
Die anstehenden Erweiterungen dürften kaum helfen, die Einkommenslücke gegenüber den USA zu schließen – im Gegenteil, sie wird sich weiter auftun. Eigentlich sollte die Wirtschaft der Europäische Union rascher wachsen als jene der USA. Denn nach der Schaffung der Zollunion 1968, den großen Schritten zur Vertiefung der EU-Integration durch den Binnenmarkt 1993, die Einführung des Euro 2002 sowie nach den großen Erweiterungen ab 2004, hat Europa permanent positive Integrationsschocks erlebt. Theoretisch als auch auf Grund der allermeisten empirischen Integrationsstudien hätte die Lücke kleiner werden sollen. Da dies nicht passierte (wohl auch durch die EU-Erweiterung ab 2004) bleibt es ein transatlantisches „Integrationsrätsel“. Die Wiederwahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA wird die EU ab 2025 vor zusätzliche Herausforderungen stellen. Es geht um die Frage, wie sie mit einer möglichen Neuauflage des US-Handelsprotektionismus umgeht.
Die Wiederwahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA wird die EU ab 2025 vor zusätzliche Herausforderungen stellen.
Durch den kriegerischen Einfall Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat sich auch in der EU vieles verändert. Einerseits unterstützt die EU die Ukraine durch Sanktionen gegen Russland und direkte Militärhilfe, andererseits haben die Mitgliedstaaten der EU eingesehen, dass sie ihre eigene Verteidigungsbereitschaft stärken müssen. Die EU[9] und ihre Mitgliedstaaten[10] wandeln somit vom Frieden[11] in einen Zustand des Krieges, wenn auch indirekt. Erstmals wird die neue Europäische Kommission 2024-2029 auch durch einen Kommissar (Andrius Kubilius) für Verteidigung (Defence and Space) gestärkt. Nach Bundeskanzler Scholz handelt es sich um eine „Zeitenwende“[12]. Das schon längst vereinbarte Ziel der NATO, die Verteidigungsausgaben mindestens auf 2 % des BIP der Mitgliedstaaten zu steigern, hat Gestalt angenommen und dürfte aber nicht ausreichen.
[1] Die wesentlichen Stationen auf dem Weg nach Brüssel beschreibt Ziegerhofer (2024). Zu persönlichen Erfahrungen und Überlegungen zu 30 Jahre EU-Mitgliedschaft Österreichs, siehe Nowotny (2024).
[2] Eine vergleichbare Analyse über „The cost of non-Europe“ mit ähnlichen Ergebnissen stammt von Mayer et al. (2019).
[3] Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen (CSRD, Corporate Sustainability Reporting Directive). Die CSRD modernisiert und verschärft die Regeln für die sozialen und ökologischen Informationen, die Unternehmen berichten müssen. Ein breiterer Kreis von Großunternehmen sowie börsennotierte Klein- und Mittelunternehmen sind nun verpflichtet, über Nachhaltigkeit zu berichten. Die EU-Richtlinie Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD) verpflichtet Unternehmen, die Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit und Lieferketten auf Menschenrechte und Umwelt zu identifizieren, zu mindern und zu berichten. Die Verordnung über den Binnenmarkt für digitale Dienste (DAS, Digital Services Act) sieht abgestufte Verhaltenspflichten für Anbieter von Vermittlungsdiensten (online erbrachte Dienstleistungen) vor, mit deren Hilfe Informationen über das Internet ausgetauscht werden können. Der Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM) der EU ist eine wichtige Maßnahme, um die Verlagerung von CO2-Emissionen zu verhindern. CBAM stellt sicher, dass für Importe der gleiche CO2-Preis innerhalbe der EU nach dem Emissionshandelssystem (ETS) gezahlt wird. Importeur müssen ihre Lieferketten auf CBAM-Waren überprüfen und Emissionsdaten erheben.
[4] Auch der Bericht von Letta (2024) schlägt in dieselbe Kerbe, indem er fordert, den Binnenmarkt zu stärken.
[5] Siehe: https://commissioners.ec.europa.eu/ursula-von-der-leyen_de
[6] Siehe: https://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2024/11/08/the-budapest-declaration/
[7] Siehe: https://www.oegfe.at/stellungnahmen/eu-zustimmung-in-oesterreich-sehr-stabil/. Die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft pendelt seit dem EU-Beitritt fast immer über dem Wert der Volksabstimmung zum EU-Beitritt am 12. Juni 1994 von 66,6 % (https://www.oegfe.at/umfragen/mitgliedschaft_juni2024/). Dasselbe gilt für die Ablehner:innen der EU; deren Anteile liegen seit 1995 durchwegs unter dem Wert der Volksabstimmung von 33,4 %. Anlässlich der Migrationswelle von 2015 sank die Zustimmung längere Zeit auf rund 60 %. Interessanterweise stieg die Zustimmung in der Zeit der Großen Rezession 2009 stark auf 79 % an, offensichtlich weil die Österreicher:innen dachten, dass nur die EU die Krise lösen wird können.
[8] Die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) spielt schon länger mit dem Gedanken eines „Öxits“. Eine Analyse der Motive bei der Wahl zum Europaparlament am 6.-9. Juni 2024 von Foresight/ISA im Auftrag des ORF ergab, dass die FPÖ-Wähler:nnen mit großem Abstand die Einzigen sind, die sich einen Austritt aus der EU vorstellen können. 47 % würden einen „Öxit“ „sehr“ oder „ziemlich“ sicher wünschen. 42 % sind „wenig“ oder „gar nicht“ dafür. Siehe: https://www.derstandard.at/story/3000000223583/wahlmotive-demografie-eu-wahl-2024. Tatsächlich haben neun Abgeordnete der FPÖ (Bevollmächtige Susanne Riess-Passer) am 19. August 1997 einen Antrag beim Bundesministerium für Inneres für ein „Schilling-Volksbegehren“ eingebracht (https://www.bmi.gv.at/411/Volksbegehren_der_XX_Gesetzgebungsperiode/Volksbegehren_Schilling_Volksabstimmung/): Damit sollte die Einführung des Euro verhindert werden.
[9] Sonderberater Sauli Niinistö (2024) hat am 31. Oktober 2024 im Auftrag der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen zusammen mit dem Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik einen Bericht zur Stärkung der zivilen und militärischen Bereitschaft und Bereitschaft Europas vorgestellt.
[10] Deutschland hat kurz nach dem Überfall auf die Ukraine durch Russland ein Sondervermögen von 100 Mrd. Euro für die Bundeswehr beschlossen. Den Anstoß gab die „Zeitenwende“-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2024 im Bundestag (https://www.bundesfinanzministerium.de/Web/DE/Themen/Oeffentliche_Finanzen/Bundeshaushalt/Sondervermoegen-Bundeswehr/sondervermoegen-bundeswehr.html).
[11] Die EU erhielt am 10. Dezember 2012 nicht zuletzt wegen ihres Friedensprojektes den Friedensnobelpreis – eine Anerkennung für viele Jahrzehnte Frieden, Versöhnung und Demokratie.
[12] Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2024 im Bundestag (https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/regierungserklaerung-von-bundeskanzler-olaf-scholz-am-27-februar-2022-2008356).
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ISSN 2305-2635
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Schlagwörter
30 Jahre EU-Mitgliedschaft, Österreich, Finnland, Schweden, Wirtschaft, Binnenmarkt, Integration
Zitation
Breuss, F. (2025). Österreich, Finnland und Schweden 30 Jahre in der EU mit unterschiedlichem Erfolg. Wien. ÖGfE Policy Brief, 01’2025
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