25 Thesen zu „100 Jahre österreichische Europa- und Integrationspolitik“ 1919-2020

Handlungsempfehlungen

  1. Österreich konnte sich seit seiner EU-Mitgliedschaft handels-, investitions-, wirtschafts- und währungspolitisch bestens integrieren. Davon ausgehend und als Nettozahler kann es selbstbewusster und stärker auftreten sowie eine über seine eigene Interessenlage hinausgehende weit pro-aktivere, noch mehr auf Vertiefung ausgerichtete, europäische Einigungspolitik praktizieren.
  2. Als Land der Mitte Europas kann Österreich seine geopolitisch und -ökonomisch günstige Lage, seine daraus erwachsenden Potentiale weit mehr nutzen und gewinnbringender für die EU-Mitglieder in Ost und West, letztlich auch für sich selbst wie für die gesamte Union einbringen, um Diffusions- und Separierungstendenzen abzuschwächen oder gar aufzuhalten. Das würde Anliegen wie die Bekämpfung des Klimawandels, Sicherung von Umweltstandards, Ablehnung von Fremdenfeindlichkeit, Beseitigung von Korruption und Wahrung von Rechtsstaatlichkeit berühren, bei denen Österreich selbst mit gutem, ja besserem Beispiel vorangehen könnte.
  3. Geschichts- und politikwissenschaftliche Europa- und Integrationsforschungen an Bildungsinstitutionen und Universitäten sind stärker zu fördern und damit ihre Ergebnisse für breitere Kreise der Bevölkerung so ausgewogen und eingehend wie möglich zu vermitteln. Europa und seine Einigung sollten noch viel mehr als Forschungs- und Bildungsauftrag begriffen werden. Dabei gilt es auch Formate wie die „Europäische Rundschau“ nicht einzustellen, sondern zu reaktivieren und auf ein breiteres publikumswirksameres Format auszurichten.

Zusammenfassung

Das aus der Konkursmasse der zerfallenden Habsburgermonarchie hervorgegangene Österreich verfügte nur über geringen Handlungsspielraum. Es bewegte sich zwischen wenig aussichtsreichen Paneuropa-Ideen und Mitteleuropa-Konzeptionen sowie einer NS-„Anschluss“-Politik, die 1938 zum Ende des Staates führte. Nach 1945 ging es der wiedererrichteten Republik um Balanceakte zwischen Staatseinheit und Westorientierung. Österreich war v. a. an der wirtschaftlichen Integration interessiert. Lange dominierten Staatsvertrag und Neutralität als Referenzpunkte, was sich erst nach 1989 allmählich änderte. Österreich trat 1995 relativ problemlos der EU und 1999/2002 der Eurozone bei, da es bereits seit den 1970er Jahren an das Europäische Währungssystem gekoppelt war. Militärische Optionen blieben ausgeklammert. Auf supranationale Projekte reagierte Österreich rezeptiv. Agiert wurde, wenn es primär um nationale Belange ging, was zur Folge hatte, dass es an Impulsen und Initiativen für Europa, die über das österreichische Eigeninteresse hinausgingen, weitgehend mangelte. Im Großen und Ganzen war das offizielle Österreich grundsätzlich pro-europäisch ausgerichtet, d. h. in einem breiteren und viel umfassenderen Sinne als die EWG und die EU. Dies drückte sich auch in der aktiven Mitgliedschaft im Europarat und in der EFTA sowie in der Zustimmung zu allen integrationsgeschichtlichen Entscheidungen, von den Römischen Verträgen über Maastricht, Amsterdam, Nizza bis zum Vertrag von Lissabon aus. Trotz aller Einwände, Hindernisse und Widerstände war Österreich stets bemüht, sich von den gemeinsamen Entscheidungen nicht auszuschließen, sondern so weit wie möglich daran teilzunehmen und davon zu profitieren. Der lange Weg von Saint-Germain-en-Laye (1919) nach Lissabon (2009) und darüber hinaus kann ausgehend von den österreichischen Interessen als eine Erfolgsgeschichte für das Land geschrieben werden.

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25 Thesen zu „100 Jahre österreichische Europa- und Integrationspolitik“ 1919-2020

Österreichs Europa- und Integrationspolitik ist nur in einem größeren Kontext zu verstehen. Es gab wiederholt Abhängigkeiten von Nachbarn (Deutsches Reich, Bundesrepublik und Italien) wie den Siegermächten (Frankreich, Großbritannien, Sowjetunion und USA) und internationalen Organisationen, Determinanten von außen wie innen. Das begann mit der Kontrolle durch den Völkerbund seit 1922 bis in die 1930er Jahre und setzte sich fort mit Bestrebungen zur Satellisierung durch das „Dritte Reich“, was 1938 zu „Finis Austriae“ führte. Hürdenreich gestaltete sich der spät gewählte Weg zum gemeinschaftlichen Europa für den wiedererrichteten Staat nach 1945.

(1) Imperialer Verlust und das Deutsche Reich als Zukunftsraum 1918-1932

Von 1918 bis 1922 waren vier europäische Großreiche zerfallen: das russische Zarenreich, das deutsche Kaiserreich, die Habsburgermonarchie und das Osmanische Reich. Die gesellschaftlichen, ökonomischen und psychologischen Folgen für jene Generationen, die über Jahrhunderte in diesen Imperien gelebt hatten, waren katastrophal. Das traf besonders für das Donaureich zu. Die „Paneuropa Union“, die Richard N. Coudenhove-Kalergi initiiert hatte, fiel nicht zufällig in Wien auf fruchtbaren Boden, wo das Ende des Habsburgerreichs besonders zu spüren war. Hinzu kam der von den Siegermächten erzwungene Friedensvertrag von Saint Germain (1919) als verhinderter Staatsvertrag, den man als Resultat der Konkursmasse des Donaureiches empfinden musste. Die neue Republik war eine Staatsgründung wider Willen. Nicht „Europa“, sondern das Deutsche Reich galt als Zukunftsraum, was sich in der Anschlussbewegung der 1920er Jahre ausdrückte. Diese Tendenzen versuchten die Siegermächte sowohl mit der Genfer (1922) als auch mit der Lausanner Anleihe (1932) des Völkerbundes zu konterkarieren. Beide bedeuteten Anschluss-Verbot. Der „Europa“-Gedanke wurde dadurch in Österreich nicht populärer. „Paneuropa“ blieb ein Wunschtraum, während Mitteleuropa-Projekte realistischer wirkten, jedoch im Spannungsfeld zwischen der Abhängigkeit vom Völkerbund und eingeschränkter Souveränität mit Blick auf das faschistische Italien und NS-Deutschland in den 1930er Jahren zum Scheitern verurteilt waren.

(2) Verlust der Mitteleuropa-Idee und Europa als untergeordnetes Thema im Exil 1931/32-1945

Mit Kanzler Ignaz Seipels Abgang von der politischen Bühne 1931 war auch der Verlust der Mitteleuropa-Idee verbunden, der – bemerkenswert genug – mit dem von Johannes Schober verfochtenen deutsch-österreichischen Zollunionsprojekt korrespondierte. Wien blieb unentschlossen und schwankte, bis eine publizistische Indiskretion internationale Ablehnung provozierte. Frankreich und die Tschechoslowakei legten sofort Protest gegen die Zollunion ein. Nachdem das Europa-Projekt von Aristide Briand von Deutschland und Österreich 1930 abgelehnt worden war, kam der neuerliche französische Plan von André Tardieu zur Bildung einer Konföderation aller Donau-Anrainer-Staaten 1932 zu spät, um noch eine Verwirklichungschance zu haben. Österreich war schon zu sehr an die Schutzmachtpolitik Mussolinis gebunden, um dann konsequenter Weise mit den „Römer Protokollen“ 1934 bereit zu sein, eine Allianz sowohl mit dem faschistischen Italien als auch mit dem revisionistischen Ungarn einzugehen. Der italienische Abessinien-Krieg ab 1935 brachte Österreich schließlich vollends in die Defensive und das Juli-Abkommen mit NS-Deutschland 1936 machte es zu einem Satelliten mit begrenzter Lebensdauer. Das österreichische Exil in Brüssel, Paris, Moskau, London und New York förderte nur wenig Ideen für ein zukünftig gemeinsam und neu zu gestaltendes Nachkriegseuropa ans Tageslicht. Es ging v. a. um das Ob und Wie der Wiederherstellung Österreichs nach dem Krieg.

(3) Verhinderter Kalter Krieg in Österreich und eingeschränkte Integration 1945-1955

Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte die militärische Besetzung durch die Vier Mächte, die beobachteten, kontrollierten und intervenierten. Zwischen 1945 und 1955 gelang es aber Österreich, den Kalten Krieg im eigenen Land nicht zu stark aufkommen und eskalieren zu lassen. Das war die eigentliche Leistung der politischen Eliten der Zweiten Republik, zumal dies den Zusammenhalt des Landes sicherte. Vom Europäischen Wiederaufbauprogramm des Marshall-Plans profitierte Österreich in der OEEC seit 1948. Dem Europarat trat es 1956 als aktives Mitglied bei. Österreich definierte sich nun als weitgehend überzeugt von der Idee „Europa“ und ihren Möglichkeiten einer einigenden Gestaltung des Kontinents. Der Staatsvertrag mit dem Anschluss-Verbot an Deutschland, sei es ökonomisch oder gar politisch, und die „immerwährende“ Neutralität des Bundesverfassungsgesetzes von 1955 verhinderten jedoch den Wunsch nach voller Einbindung in das westeuropäische Integrationsprojekt bis zum Ende des Kalten Krieges (1987-1990).

(4) Loslösung von Deutschland mit Unvereinbarkeit von Integration und Neutralität 1955/56

Die Entwicklungen der Jahre 1955 und 1956 sind im Unterschied zur bisherigen Forschung in einem stärkeren Zusammenhang zu sehen, einerseits in souveränitäts- und integrationspolitischer Hinsicht, andererseits aber auch hinsichtlich ihrer Folgen für die Deutschland- und Ungarnfrage. 1955 war nicht nur ein Akt der Emanzipation von den Besatzungsmächten, sondern auch ein Ausdruck der Unabhängigkeit Österreichs von der deutschen Frage. 1956 sah die erste eigenständige außen- und nachbarschaftspolitische Aktion mit der humanitären Hilfe für das aufständische Ungarn. Dieses Jahr markierte zudem auch klare Grenzen zwischen „immerwährender“ Neutralität und nationaler Souveränität auf der einen und supranationaler Integration auf der anderen Seite.

Die Entscheidung für die Neutralität war 1955 ein geeignetes Mittel zum erwünschten Zweck der Befreiung von der alliierten, v. a. der sowjetischen Besatzungsmacht. Neutralität wurde zur Absicherung nach außen und zur Rückversicherung in Moskau als Bundesverfassungsgesetz verankert und in Folge so stark ausgeprägt, dass eine österreichische EWG-Mitgliedschaft ausgeschlossen werden konnte, ja musste. Während die europafreudigere ÖVP-Führung damit zu leben hatte, war die stärker international ausgerichtete SPÖ-Spitze damit zufrieden.

(5) Außen- und nachbarschaftspolitische Hindernisse gegen eine EWG-Assoziierung 1956-1967

Während die österreichische Neutralitätspolitik im Zeichen der Ungarnaufstände im Herbst 1956 noch unerprobt war, ging man mit ihr 1968 anlässlich der „Tschechenkrise“ schon bewusster und vertrauter um, wenngleich manches sicherheits- und verteidigungspolitische Verhalten der Regierung inkonsequent und fragwürdig blieb. Die Neutralität wurde von ÖVP-Seite zunehmend als lästiges Hindernis empfunden, zumal diese sich in Folge so stark ausprägte, dass in den 1960er Jahren maximal eine österreichische EWG-Assoziierung denkbar erschien, doch scheiterte dieses Vorhaben an außen-, innenpolitischen und gemeinschaftlichen Widerständen. Österreich erlebte 1967/68 mit der Eskalation der Südtirolfrage und der „Tschechenkrise“ die Grenzen ambitionierterer EG-Integrationspolitik und aktiver Nachbarschaftspolitik. Aufgrund vorgehaltener und vorgetäuschter Bombenanschläge im „Alto Adige“ beendete das Veto Italiens in Brüssel und Luxemburg die bereits praktisch vereinbarte Quasi-Assoziierung Österreichs mit der EWG und der EGKS, gegen die sich auch Frankreich als Gemeinschaftsgründungsmitglied und Staatsvertragssignatar stellte.

(6) Entspannungspolitik als Voraussetzung für EG-Annäherungspragmatik unter Beibehaltung der EFTA-Mitgliedschaft und Überhöhung der Neutralität 1969-1979

Bundeskanzler Bruno Kreisky legte 1971 in einer Rede vor dem Europarat seine außenpolitischen Ziele dar. Die Entspannung in Europa hatte Vorrang vor der westeuropäischen Integration als Voraussetzung für weitergehende Beziehungen zur EG. Wie sein Vorgänger Josef Klaus wollte auch Kreisky ein vertraglich bindendes Verhältnis. Im Gegensatz zur Politik von Bundeskanzler Klaus (1964-1970) war Kreisky für Österreich wichtig, mit der seit 1960 bestehenden EFTA und ihren Staaten gemeinsam vorzugehen. Er gab sich mit den 1973 in Kraft getretenen EG-Zoll- und Handelsverträgen zufrieden, die auch eine Evolutivklausel enthielten. Die UdSSR reagierte moderat, forderte aber gleiche Handelsrechte. In der Ära Kreisky (1970-1983), unterstützt von drei absoluten Mehrheiten für eine SPÖ-Alleinregierung (1971, 1975, 1979), erfuhr die Neutralitätspolitik eine Überhöhung, die Integrationspolitik nachrangig erscheinen ließ. Zoll- und Handelsabkommen mit EWG und EGKS waren pragmatische Antworten, die Österreichs Integrationspolitik bis zum Antrag auf EG-Mitgliedschaft und dem in Kraft getretenen EWR-Vertrag (1989-1994) bestimmten.

(7) Integrationspolitischer Status quo im Zeichen des verschärften Kalten Kriegs 1979-1983

Im Zeichen verstärkter Konfrontationspotentiale im Zuge der sowjetischen Afghanistan-Intervention (1979), dem (mehr oder weniger starken) westlichen Boykott der olympischen Sommerspiele in Moskau (1980) und der Polenkrise (1981-1983) wahrte Österreich seine Neutralitätspolitik auf nicht immer ganz unproblematische Weise. Solange antagonistische Systeme in Europa existierten, galt der integrationspolitische Status quo für Kreisky nur mit leichten Nuancierungen. Der Position Österreichs zwischen den Blöcken sollte durch eine Politik der „aktiven Neutralität“ Rechnung getragen werden. Das schloss langfristige Überlegungen zu einer stärkeren Annäherung an die EG nicht aus, eine Vollmitgliedschaft in Brüssel kam für Kreisky aber nicht in Frage. Die SPÖ-FPÖ-Koalition (1983-1986) unter Fred Sinowatz und Norbert Steger hielt diese Kontinuität im Wesentlichen aufrecht, obwohl das seit 1985 von Brüssel lancierte EG-Binnenmarktprojekt den Druck auf sie erhöhte.

(8) Das integrationspolitische Wendejahr 1985 erzeugt Handlungsbedarf

Österreich erkannte als erstes neutrales EFTA-Land die neuen Chancen und großen Herausforderungen des geplanten EG-Binnenmarkts sowie die erweiterten Handlungsspielräume aufgrund des zu Ende gehenden Kalten Krieges.

Erst mit der Reformpolitik in der Sowjetunion unter KPdSU-Generalsekretär Michail S. Gorbatschow ab 1985 wurde ein EG-Beitritt denkbarer. Bei getrennten Besuchen von Bundeskanzler Franz Vranitzky und Außenminister Alois Mock in Moskau 1988 konnte dieses Anliegen ohne größeren Widerspruch sondiert werden, nachdem EG-Kommissionspräsident Jacques Delors 1985 das für Österreichs Wirtschaft äußerst reizvolle Binnenmarkt-Projekt anvisiert hatte. Die reaktivierte Große Koalition verband von 1987 bis 1990 ihre Mitteleuropa- und Deutschlandpolitik mit einer zunehmend forcierten EG-Beitrittsoption. Österreich begrüßte und förderte die Liberalisierungs- und Öffnungsbestrebungen in Polen und Ungarn nach Kräften, während es auf die umwälzenden Entwicklungen in der DDR 1989 zurückhaltend reagierte, aber letztlich die deutsche Einigung 1990 auch befürwortete. Österreich erkannte als erstes neutrales EFTA-Land die neuen Chancen und großen Herausforderungen des geplanten EG-Binnenmarkts sowie die erweiterten Handlungsspielräume aufgrund des zu Ende gehenden Kalten Krieges. Die deutsche „Wiedervereinigung“ und der Maastrichter Unionsvertrag als Antwort auf die deutsche Frage minderten jedoch zunächst Österreichs Möglichkeiten, früher in Verhandlungen mit den Gemeinschaften einzutreten.

(9) Abwarten, Balkan-Engagement und Herabsenkung der Neutralität 1991-1992

Die Jahre 1991-92 zeigten österreichisches Engagement zur Überwindung der Jugoslawien-Krise durch Aktivierung der KSZE-Mechanismen und das Eintreten für die Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens. Die Hauptmotivation war ursprünglich eine ganz andere, nämlich den EG-Beitrittsprozess voranzutreiben, der jedoch mit einer dreieinhalbjährigen Verzögerung nach dem „Fall der Berliner Mauer“ und dem Abschluss des Maastrichter Unionsvertrages (1989-1993) verbunden war. In dieser Zeit des Wartens auf Verhandlungen wurde das Engagement auf dem Balkan dazu benutzt, um zu demonstrieren, dass es sich hier um einen europäischen Verantwortungsraum ersten Ranges handelte, den es zu stabilisieren galt. In Übereinstimmung mit Deutschland und dessen Unterstützung exponierte sich Österreich als Vorkämpfer für die Unabhängigkeit der jugoslawischen Teilrepubliken, ohne die Folgen dieser politischen Entscheidung abschätzen zu können. Mit dieser Parteinahme hatte sich Österreich bereits auf halbem Wege von seiner Neutralitätspolitik verabschiedet. Zudem hatte es als nicht-ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates 1991/92 bereits dem Transit von US-Kriegsmaterial zugestimmt, als es um die „Polizeiaktion“ gegen den Irak von Saddam Hussein nach dessen Besetzung von Kuwait ging. In weiterer Folge war Österreich durch seine Balkan-Expertise zur Befriedung und Stabilisierung dieser Region, u. a. mit Erhard Busek, Valentin Inzko, Gerhard Jandl, Wolfgang Petritsch und Albert Rohan immer wieder gefragt.

(10) Streitbeilegung in der Südtirolfrage 1992 als Voraussetzung für EU-Beitrittsverhandlungen

Ohne ein Ende des noch offenen Streits über die Autonomie Südtirols vor den Vereinten Nationen hätte Österreich kaum in die EU aufgenommen werden können, zumal die Zustimmung Italiens davon abhängig war. Es war daher kein Zufall, dass Wien Rom Einlenken signalisierte. Die Zeit drängte: Tendenzen zur Selbstbestimmung im vom Zerfall bedrohten Jugoslawien legten Analogien und Präzedenzfälle für Südtirol nahe. Italiens politisches System, jahrzehntelang von der Democrazia Cristiana (DC) dominiert, drohte durch das Ende des Kalten Krieges in einem tiefen Korruptionssumpf von Amtsmissbrauch, Bestechungsskandalen, illegaler Parteienfinanzierung und kriminellen Verflechtungen („Tangentopoli“, „Mani pulite“) zu versinken, nicht mehr zu überleben und sollte folglich auch zusammenbrechen. Gerade noch rechtzeitig konnte die Erklärung über das Ende des Streits im Beisein von UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali in New York (1992) abgegeben werden. Damit wurde der Weg für EU-Beitrittsverhandlungen Österreichs mit Brüssel und Italien geebnet. Die Südtirolfrage wurde im EU-Beitrittsvertrag nicht erwähnt. Sie galt zwischen Wien und Rom als politisch gelöst.

(11) Trotz „annus mirabilis“ 1989 Priorität für fortgesetzte Westorientierung unter formeller Wahrung der Neutralität

Österreich ist trotz der Umbrüche von 1989 in der Mitte und im Osten politisch mehr west- als mittelosteuropäisch orientiert geblieben.

Österreich ist trotz der Umbrüche von 1989 in der Mitte und im Osten politisch mehr west- als mittelosteuropäisch orientiert geblieben. Die Jahre 1993/94 waren geprägt von der völligen Konzentration auf den EU-Beitritt, der nach erfolgtem Referendum mit 66 % Zustimmung (12. Juni 1994) schließlich am 1. Jänner 1995 nach mehr oder weniger gelungenen Regelungen für die Agrarwirtschaft, den Alpentransit, die Umweltstandards und Zweitwohnsitze gelingen sollte, aber nicht dazu diente, die politischen Beziehungen zu den mittel- und osteuropäischen Nachbarn zu stärken oder gar zu verbessern, die mit ihrem EU-Beitritt bis 2004 warten mussten. Die diplomatisch-politischen Beziehungen zu ihnen blieben ambivalent, während die österreichische Wirtschaft in der Mitte und im Osten Europas neue Chancen und Möglichkeiten erkannte und der Politik voraus war. Eine österreichische Mitgliedschaft in der mitteleuropäischen Freihandelszone (CEFTA) der Viségrad-Länder, Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn („V4“), war weder für diese Staaten noch für Wien eine Option, obwohl eine solche aus geographischen und wirtschaftlichen Gründen naheliegend war. Im Gegensatz zu allen „V4“, die der NATO beitraten, blieb Österreich formell „neutral“. Die EU-Mitgliedschaft konnte die Regierung nicht dazu zwingen, die Kernelemente der verfassungsrechtlich verankerten Neutralität anzutasten: Österreich gehört bis heute keinem Militärbündnis an, beteiligt sich an keinem Krieg und erlaubt keine Stationierung ausländischer Militärbasen oder Truppen auf seinem Territorium. Diese drei Kernbestände blieben unumstößlich, so sehr von Kritikern der Neutralität von „Mozartkugeln“, „Realitätsverweigerung“, einem „Mythos“ und sicherheitspolitischem „Trittbrettfahren“ die Rede war. Mozartkugeln schmecken übrigens weiter gut und Mythen können zählebige Realitäten sein.

(12) Keine öffentliche Debatte über den außenpolitischen Status und das Scheitern des sicherheitspolitischen Optionenberichts 1989-1998

Mit dem von Außenminister Alois Mock eingebrachten Antrag auf EG-Mitgliedschaft vom 14. Juli 1989 schien eine Debatte über den außenpolitischen Status Österreichs zu beginnen. Doch die Diskussion fand nicht statt, zumal die im Entstehen begriffene EU selbst noch keine rechtlich verbindliche Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik entwickelt hatte, die durch Mehrheitsentscheidungen beschlossen werden sollte. Daher wurde ab Eintritt in die EU ein gestärkter österreichischer Nationalstaat zur Sicherung seiner handels- und wirtschaftspolitischen Interessen vor dem Hintergrund einer verstärkten Globalisierung vorrangig. Führende Vertreter der ÖVP (Außenminister Wolfgang Schüssel und Verteidigungsminister Werner Fasslabend) und sogar Bundespräsident Thomas Klestil versuchten jedoch in den Jahren nach dem EU-Beitritt, die Neutralitätspolitik einzuschläfern, indem sie eine NATO-Mitgliedschaft forcierten. Es sollte jedoch misslingen, weil die SPÖ-Führung um Franz Vranitzky und Heinz Fischer dies zu verhindern verstand. Ihre Position war gedeckt durch den Mehrheitswillen der Bevölkerung und die fehlende Zweidrittelmehrheit im Nationalrat, eine Mehrheit, die für die Revision des Verfassungsgesetzes notwendig gewesen wäre. Der fortbestehende sicherheitspolitische Dissens in der Großen Koalition (SPÖ-ÖVP) fand seinen Ausdruck im Scheitern eines gemeinsamen Optionenberichts 1998. Die NATO-Variante war damit ausgeschlossen worden, was bis heute gilt.

(13) Klare Prioritäten in der EU

Österreich war von Anfang an primär an der wirtschaftlichen Integration Europas interessiert.

Die ersten Jahre der Mitgliedschaft Österreichs in der EU bewegten sich ganz auf der Kontinuitätslinie des Beitrittsantrags von 1989 und der bis dahin verfolgten Europapolitik. Handels-, wirtschafts- und währungspolitisch gab es volle Integrationsbereitschaft, militär- und sicherheitspolitisch hielt Wien sich aufgrund seiner Neutralität zurück. Österreich war von Anfang an primär an der wirtschaftlichen Integration Europas interessiert. Daher schloss es sich auch problemlos dem Euro an, nachdem der Schilling schon seit den 1970er Jahren an das Europäische Währungssystem (EWS) gekoppelt war. An der Bildung der bargeldlosen Einheitswährung (1999) und der Vorbereitung der Einführung der Realwährung (2002) nahm Österreich voll und ganz teil.

Im Rahmen der Westeuropäischen Union (WEU) hatte Österreich bis zur Auflösung dieser Organisation (2011) nur einen Beobachterposten. Es schloss sich der NATO-„Partnerschaft für den Frieden“ (PfP) zwar an, blieb aber dem integrierten Militärbündnis fern. Der Spagat zwischen Wahrung des sicherheitspolitischen Eigenbestands und der Teilhabe an der wirtschafts- und währungspolitischen Entwicklung der EU sollte gelingen. Mit Franz Fischler stellte Österreich einen profilstarken EU-Kommissar für Landwirtschaft und Fischereiwesen (1995-2004) unter Jacques Santer und Romano Prodi.

(14) Der Beitritt als Chance zur Europäisierung und Quelle der Renationalisierung

Paradoxerweise waren ein neuer spezifischer Austro-Nationalismus und ein verstärkter österreichischer Patriotismus weitere Folgen des EU-Beitritts.

Am 1. Januar 1995 eröffnete sich für Österreich die neue Welt der noch jungen und entwicklungsfähigen EU mit weitreichenden Perspektiven, v. a. für transnationale Unternehmen und die exportorientierte Wirtschaft. Für Bürgerinnen und Bürger boten sich nach dem Beitritt der neuen Mitglieder verbesserte Reisemöglichkeiten, v. a. durch den uneingeschränkteren Zahlungsverkehr in den Euroländern. Es gab neue Möglichkeiten des Austausches und der Begegnung, nicht zuletzt durch Kooperationen im Bereich der Forschung und Wissenschaft. Doch sind nicht nur durchwegs „positive“ Wirkungen feststellbar: Durch Richtlinien und Verordnungen aus Brüssel kam auch ein Gefühl der Fremdbestimmung auf. Infolge real erlebter Enttäuschungen manifestierte sich durch die EU-Mitgliedschaft auch eine verstärkte Tendenz zur Renationalisierung und Verprovinzialisierung, die ihren Ausdruck in Zugewinnen für die EU-kritische FPÖ unter Jörg Haider fand. In vielen Fällen war jedoch nicht die EU die Ursache von Missständen, sondern der Nationalstaat selbst. EU-Kritik und -Skepsis lassen sich daher auch weit weniger rational, sondern eher psychologisch erklären. Paradoxerweise waren ein neuer spezifischer Austro-Nationalismus und ein verstärkter österreichischer Patriotismus weitere Folgen des EU-Beitritts.

(15) Höhe- und Tiefpunkte österreichischer EU-Mitgliedschaftserfahrung

Die mitgliedstaatlichen Boykottmaßnahmen der 14 EU-„Partner“ im Jahr 2000 gegen die Bildung der schwarz-blauen ÖVP-FPÖ-Regierung waren ein schwerer psychologischer Rückschlag für alle Seiten.

Die Zeit von 1998 bis 2000 bot Höhe- und Tiefpunkte für Österreichs Europa- und Integrationspolitik zugleich. Die erste Ratspräsidentschaft 1998 war sehr gut organisiert, gleichwohl die Abwahl des großen Pro-Europäers Helmut Kohl in Deutschland den Handlungsspielraum des EU-Vorsitzes einschränkte. Es war ungewiss, was die neue rot-grüne Regierung der Berliner Republik unter Gerhard Schröder in die EU einbringen würde. Die mitgliedstaatlichen Boykottmaßnahmen der 14 EU-„Partner“ im Jahr 2000 gegen die Bildung der schwarz-blauen ÖVP-FPÖ-Regierung waren ein schwerer psychologischer Rückschlag für alle Seiten. Sie verstärkten die Vorbehalte einzelner Gründungsmitglieder gegen Österreich und den schwierigen Nachzügler. Von diesem Schockerlebnis erholte sich Österreichs Europa- und Integrationspolitik für längere Zeit nicht. Strategische Partnerschaften mit den mittel- und osteuropäischen Ländern (MOEL) kamen nicht zustande. Kritik und Skepsis blieben ein nicht unerhebliches Element in der innerösterreichischen Bewertung der punitiven Aktionen, wovon ein bereits bestehender austro-nationaler Populismus profitieren konnte. Die Bezeichnung der so genannten „EU-Sanktionen“ von 2000 offenbarte die weit verbreitete Unkenntnis und mangelnde Vertrautheit mit Struktur, Geschichte, Grenzen und Möglichkeiten der EU, denn es handelte sich um einzelstaatliche Maßnahmen.

(16) Verstärkte Renationalisierung und die Ambivalenz der EU-„Osterweiterung“

In der österreichischen Bevölkerung hielten sich Sympathie und Zustimmung in Grenzen, während die Ballhausplatz-Diplomatie alles tat und half, das Paket der Beitrittsverhandlungen mit den MOEL zu schnüren, wohlwissend, dass es der eigenen Wirtschaft sehr helfen würde.

Das Jahr 2000 mit den überzogenen, unwirksamen und unnötigen EU-14-Boykottmaßnahmen und dem von vielen nationalen Meinungsverschiedenheiten geprägten Gipfel von Nizza läuteten eine Phase ein, in der die EU vermehrt in den Dunstkreis von Renationalisierung und Populismus geriet. Die größte Erweiterung in der Geschichte der Gemeinschaften um die MOEL des Kontinents hatte bereits ihre Schatten vorausgeworfen. In der österreichischen Bevölkerung hielten sich Sympathie und Zustimmung in Grenzen, während die Ballhausplatz-Diplomatie alles tat und half, das Paket der Beitrittsverhandlungen mit den MOEL zu schnüren, wohlwissend, dass es der eigenen Wirtschaft sehr helfen würde. Es benötigte mit Erhard Busek einen eigenen Regierungsbeauftragten für die EU-„Osterweiterung“ (2000-2002), um das Thema öffentlichkeitswirksamer zu vermitteln.

(17) Mitwirkung am Verfassungsvertrag, Auslaufen des Transitvertrags und Türkei-Junktim

Im Konvent zur Ausarbeitung einer europäischen Verfassung arbeitete Österreich mit Reinhard Eugen Bösch, Caspar Einem, Johannes Farnleitner und Johannes Voggenhuber aktiv mit. Sowohl der Bundesrat als auch der Nationalrat ratifizierten den „Verfassungsvertrag“, der aber nicht zustande kam, weil die Bevölkerungen in Frankreich und den Niederlanden das Dokument in Volksabstimmungen 2005 ablehnten. Die Erneuerung des 1992 noch vor dem EU-Beitritt mit den Europäischen Gemeinschaften geschlossenen und zeitlich befristeten Transitvertrages war nicht mehr möglich, wodurch der Alpen-Schwerlastverkehr besonders Tirol weiter belastete. In Österreich machte sich eine zunehmend skeptische Stimmung gegenüber der EU breit. Das hing auch mit erheblichen Vorbehalten gegenüber der Türkei als möglichem EU-Mitglied zusammen, mit der durch ursprüngliche Zustimmung von Bundeskanzler Schüssel (2000-2007) 2005 offiziell Verhandlungen aufgenommen wurden. Österreich legte jedoch mit Außenministerin Ursula Plassnik ein Veto gegen die Aufnahme von Verhandlungen und lenkte erst ein, als die österreichische Forderung, auch mit Kroatien über eine EU-Mitgliedschaft zu verhandeln, Gehör fand. Dank der Unterstützung Wiens wurde das Land 2013 EU-Mitglied.

(18) Der Ratsvorsitz 2006 als Wegbereiter für den Lissabon-Vertrag 2009

Die österreichische EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2006 übte sich in einer bewussten Abkühlungsphase und produktiven Nachdenkpause nach dem Scheitern des „Verfassungsvertrags“ in Frankreich und den Niederlanden, um dessen Inhalt zu wahren. Die nachfolgenden Ratsvorsitze Finnlands und Deutschlands erreichten dann, dass der Kern dieser Vereinbarungen weiterbestehen und als Vertrag von Lissabon in die Geschichte der EU eingehen konnte. Trotz dieses Durchbruchs entwickelte sich ein vor dem Hintergrund der Krise der Nationalstaaten immer stärker werdender austronationaler Populismus, der sich mit der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) unter Heinz-Christian Strache als eine der stärksten rechtspopulistischen Parteien Europas artikulierte, die es Jahre später wieder zur Regierungsverantwortung (2017) bringen sollte.

(19) Im Sog von Referendumspopulismus

Unter den SPÖ-Kanzlern Alfred Gusenbauer (2007-2008) und Werner Faymann (2008-2016) folgte Österreichs Europapolitik dem renationalisierten Zeitgeist, die beide unisono eine Volksabstimmung im Falle eines neuerlichen Unionsvertrags publikumswirksam via Kronen Zeitung guthießen. Der überraschende Rückzug von Ursula Plassnik als letztlich durchsetzungsschwache Außenministerin (2004-2008) markierte bereits das zunehmende Spannungsfeld eines aufkommenden EU-Referendumspopulismus der oppositionellen FPÖ und der nur noch den integrationspolitischen Status quo-wahrenden Haltung der ÖVP. Tschechiens Außenminister Karel Schwarzenberg kritisierte seinen Amtskollegen Michael Spindelegger (2008-2013), sich mehr dem Österreichischen Arbeiter- und Angestelltenbund (ÖAAB) zu widmen, als bei den Ratstreffen in Brüssel präsent zu sein. Die traditionell proeuropäische Volkspartei war bereits in der Defensive.

(20) Kontinuität unter Betonung österreichischer Interessen

Als Nachfolger Spindeleggers war Außenminister Sebastian Kurz (2013-2017) um eigene Profilschärfung bemüht. Bei den Treffen des Rates für Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen der EU war er auch nicht regelmäßig präsent. Österreichs OSZE-Vorsitz 2017 bewegte sich im Schatten seines Wahlkampfes so wie seine Europa- und Integrationspolitik, gut beraten von Spitzendiplomatinnen und -diplomaten am Minoritenplatz, auf der gleichen Linie wie unter seinem Vorgänger: kein substantieller Integrationsinput für die Weiterentwicklung der EU unter steter Betonung der österreichischen Interessen. Darin manifestierte sich die Kontinuität einer Politik, die proaktiv kaum eigene, für die EU neue Inhalte forcierte. Die nach wie vor im Inland sehr populäre Kern-Neutralität ließ Kurz – alles andere als unklug – völlig unangetastet.

(21) Die FPÖ als Steigbügelhalter und nationaler Populismus im Zeichen der europäischen „Flüchtlingskrise“

Ohne den Wiederaufstieg der Freiheitlichen unter Strache und die „Flüchtlingskrise“ 2015 wäre der Durchbruch von Kurz zum Dominator der Innenpolitik nicht möglich gewesen. Flüchtlingskontingente wurden von ihm konsequent abgelehnt, dabei die Meinungsführerschaft in Europa übernommen und die deutsche Bundeskanzlerin wurde zum Nachgeben gezwungen. Ein Höhepunkt des Ritts auf der Popularitätswelle war mit Propagierung der „Schließung der Balkanroute“ erreicht, die zum Erfolg bei den Nationalratswahlen 2017 beitrug, gleichwohl das Flüchtlingsabkommen zwischen Ankara und Berlin bzw. Brüssel 2016 ungleich entscheidender für die Abwendung weiterer Zuwanderung war. Zu Emmanuel Macrons Vorschlägen für eine erneuerte und unabhängigere EU (2017-2019) gab es aus Wien keine substantielle Antwort. Zu den autoritären Regierungen der Visegrád-Länder wie Polen und Ungarn bestand vorsichtige Distanz unter Nutzung des mit Tschechien und der Slowakei seit 2015 bestehenden gemeinsamen „Austerlitz-Formats“, womit sich Wien etwas von Budapest und Warschau absetzen konnte.

(22) Eine Ratspräsidentschaft für eine EU, die schützen soll

Der EU-Ratsvorsitz wurde 2018 von Österreich routinemäßig abgewickelt, ohne der Union entscheidende neue Impulse zu geben.

Der EU-Ratsvorsitz wurde 2018 von Österreich routinemäßig abgewickelt, ohne der Union entscheidende neue Impulse zu geben. Im Zuge des sich abzeichnenden Brexits verhielt sich die Bundesregierung leidenschaftslos zum drohenden Integrationsverlust eines der zahlungsstärksten und sicherheitspolitisch wichtigsten EU-Staaten. Weniger Mitglieder würden auch weniger Zuwendungen für die EU notwendig machen, lautete die Logik einer kurzschlüssigen Argumentation für ein Europa, das vorgeblich (mehr) „schützen“ sollte, die EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger bei seinem Wien-Besuch erst begreifen musste. Der Eindruck von europäischer Engherzigkeit und Kleinlichkeit konnte kaum verborgen bleiben, das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten (BMEIA) aber die Desavouierung Österreichs gerade noch abwenden.

(23) Frugale Europapolitik und temporäre Allianz gegen Deutschland

Als Angela Merkel und Emmanuel Macron für stark Corona-geschädigte EU-Mitglieder einen gemeinsamen Wiederaufbaufonds anregten und die EU-Kommission vorrangig Mittel als Zuschüsse vorschlug (2020), reihte sich Österreich mit Dänemark, den Niederlanden und Schweden in die Gruppe der „sparsamen Vier“ ein, denen sich noch Finnland anschloss. Österreich bildete damit eine Allianz gegen Deutschland und weigerte sich anfangs überwiegend zu sehr auf Zuschüsse zu setzen und „kaputte“ Systeme zu finanzieren. Gemeint war Italien, ein Land, das seit Jahrzehnten großteils die Migrationslast für Europa gestemmt hatte, aber gleichzeitig durchaus auch unter fehlenden Reformen leidet. „Frugal“ nannte Kurz die karge österreichische Europa- und Integrationspolitik. Mit einem Plädoyer für eine „schlanke“ EU wurde das Vorurteil von der „fetten“ Brüsseler Bürokratie bedient. Statt einen leistungsstärkeren und moderneren EU-Haushalt zu favorisieren, stieg die Bundesregierung öffentlichkeitswirksam auf die Bremse. Der „Achse Berlin-Paris“ galt es jedoch in sicherheitspolitischer Not zu folgen. Fast zeitgleiche islamistische Anschläge boten Gelegenheit, „Entschlossenheit“ und „Stärke“ nach innen zu demonstrieren sowie einen Solidaritätsbesuch bei Macron zu absolvieren.

(24) Planlosigkeit als Ausdruck von Visionslosigkeit

Die Bundesregierung hat bis dato keinen öffentlichkeitswirksamen Plan für die Weiterentwicklung der EU als supranationales Projekt präsentiert. Bahnbrechende und zukunftsverheißende Grundsatzreden über „Österreich in Europa“ oder zur „Entwicklung der Union 2030“ sind unbekannt. Weder trat man für ein soziales Europa, geschweige denn eine Sozialunion, ein, noch wurde eine für die Öffentlichkeit wahrnehmbare Vision für die EU vermittelt, vielmehr schnelle Grenzschließungen und verstärkter EU-Außengrenzschutz propagiert. An der Neuverteilung der nationalstaatlichen Machtverhältnisse in der EU will man teilhaben, aber weniger am Ausbau der EU oder keinesfalls an der Verteilung von Flüchtlingen, denen – wie von Außenminister Alexander Schallenberg – die kalte Schulter gezeigt wird.

(25) Die EU benutzen, aber ihre Einigung nicht unbedingt entscheidend fördern

Österreichs Europapolitik folgt weiter dem Primat staatlicher Interessenpolitik: Binnenmarkt, Euro und die Erweiterung um den „Westbalkan“ sind handels- und wirtschaftspolitisch erwünscht.

Gemeinschaftseuropäer vertreten die EU-Institutionen, Unionseuropäer die Stärkung des Zusammenhalts der Staatengemeinschaft und Regierungseuropäer verfolgen primär ihre nationalen Ziele. Das geht von von der Leyen, über Macron und Merkel bis zu Duda, Kurz und Orbán. Österreichs Europapolitik folgt weiter dem Primat staatlicher Interessenpolitik: Binnenmarkt, Euro und die Erweiterung um den „Westbalkan“ sind handels- und wirtschaftspolitisch erwünscht. Als Symptom einer schleichenden Enteuropäisierung und fortschreitenden Verprovinzialisierung Österreichs passt 2020 das Ende des von Paul Lendvai in Wien jahrzehntelang herausgegebenen publizistischen Markenzeichens „Europäische Rundschau“, das internationales Renommee erworben hat. Das Bundesministerium für „europäische und internationale Angelegenheiten“ ließ das geschehen. Die Zeiten von „Mister Europe“ Mock und Karlspreisträger Vranitzky scheinen vorbei. Heute gilt in Wien, die EU weiter zu nutzen, Europas Einigung aber nicht sonderlich aktiv zu fördern. Prominente Initiativen und Pläne zur Einigung Europas sind bis zuletzt nicht öffentlich bekannt geworden.

Handlungsoptionen

Aus den 25 Thesen lassen sich drei Handlungsoptionen ableiten:

  1. Österreich konnte sich seit seiner EU-Mitgliedschaft handels-, investitions-, wirtschafts- und währungspolitisch bestens in den gemeinschaftlichen europäischen Staatenverband integrieren. Ausgehend von dieser gelungenen Integrationsleistung und seiner Nettozahler-Position wäre es wünschenswert, Selbstbewusstsein und Stärke abzuleiten sowie eine über seine eigene Interessenlage deutlich hinausgehende weit pro-aktivere, d. h. eine noch mehr auf Vertiefung ausgerichtete Einigungspolitik für die Weiterentwicklung der Union zu leisten, um nicht nur reaktiv und Status quo-orientiert zu bleiben.
  2. Österreichs Wirtschaft antizipierte die EU-„Osterweiterung“ zeitlich vor der Politik, während diese nur noch hinterherhinken konnte. Die weder selten beschworene noch immer realitätskonforme Position der Brücken- und Vermittlerfunktion Österreichs zwischen EU-Mitgliedern in Ost und West muss nicht nur ein Mythos sein. Als Land der europäischen Mitte kann es seine geopolitisch und geoökonomisch günstige Lage sowie seine daraus erwachsenden Potentiale weit mehr nutzen und gewinnbringender für beide Seiten (letztlich auch für sich selbst!) wie auch für die gesamte EU produktiver einbringen, um Diffusions- und Separierungstendenzen im Zeichen einer Ost-West-Auseinanderentwicklung in der Union abzuschwächen oder gar aufzuhalten. Das würde Anliegen wie die Bekämpfung des Klimawandels und die Sicherung von Umweltstandards betreffen, aber auch Fragen wie die Ablehnung von Fremdenfeindlichkeit, die Beseitigung von Korruption und die Wahrung von Rechtsstaatlichkeit berühren, bei denen Österreich selbst mit gutem, ja besserem Beispiel vorangehen könnte.
  3. Nicht zuletzt sind geschichts- und politikwissenschaftliche Europa- und Integrationsforschungen an Bildungsinstitutionen und Universitäten im Sinne einer weiteren fundierten und seriösen Beschäftigung mit dem Themenkomplex „Österreich und die EU“ stärker zu fördern und damit ihre Ergebnisse nicht nur für interessiertere, sondern auch für breitere Kreise der Bevölkerung so ausgewogen und eingehend wie möglich zu vermitteln. Europa und seine Einigung noch viel mehr als Forschungs- und Bildungsauftrag zu begreifen, wäre angesichts von weiter anhaltendem Euro-Skeptizismus und immer wieder aufkommenden Brüssel-Bashing sinnvoll und weiterführend. Dabei gilt es auch Formate wie die „Europäische Rundschau“ nicht einzustellen, sondern zu reaktivieren und auf ein breiteres publikumswirksameres Format auszurichten.

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ISSN 2305-2635

Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.

Schlüsselwörter

EU-Mitgliedschaft, Österreich, Europa- und Integrationspolitik, Renationalisierung, EU-Erweiterung, Visegrád-Länder

Zitation

Gehler, M. (2021). 25 Thesen zu „100 Jahre österreichische Europa- und Integrationspolitik“ 1919-2020. Wien. ÖGfE Policy Brief, 05’2021

Michael Gehler

Univ.-Prof. Dr. Michael Gehler, * 1962. Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Innsbruck. 1999 Habilitation und bis 2006 Außerordentlicher Professor dortselbst. Seit 2002 Senior Fellow am Zentrum für Europäische Integrationsforschung der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, seit 2006 viermaliger Jean Monnet-Chair und Leiter des Instituts für Geschichte an der Universität Hildesheim.