Gefährliche Grenzfantasien auf dem Westbalkan (Gastkommentar, Die Presse)

Spiel mit dem Feuer. Die Debatte um die europäische Zukunft des Westbalkans droht in eine falsche Richtung abzugleiten.

Während die EU in der von ihr initiierten Zukunftsdebatte mit der Bevölkerung über Herausforderung und Zukunftsperspektiven offen diskutiert, steckt die Diskussion über die europäische Zukunft des Westbalkans in der Sackgasse. Sie wird weder öffentlich noch partizipativ geführt, kaum jemand in der EU scheint sich gerade ernsthaft dafür zu interessieren. Was noch schlimmer ist: In Ermangelung jeglicher Energie für die Länder des Westbalkans scheint die Debatte in gefährliche Richtungen abzugleiten. Zuletzt war sie eher beherrscht von sogenannten Non-Papers, inoffiziellen, nicht bindenden Diskussionspapieren mit unklarer und teils bewusst im Verborgenen gehaltener Autorenschaft.

Eines dieser erst unlängst zirkulierten „Nichtpapiere“ basiert auf der gefährlichen wie törichten Idee neuer ethnischer Grenzziehungen und der Entwicklung eines Großalbaniens, Großkroatiens und Großserbiens als Allheilmittel. Ein weiteres Non-Paper schlägt eine autonome Region Nordkosovo nach dem Vorbild der Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina vor, um den Konflikt zwischen Belgrad und Pristina zu lösen. Obwohl dieser Vorschlag zumindest keine neuen Grenzbalken vorsieht, würde er die Funktionalität und die staatliche Souveränität des Kosovo infrage stellen und regionale Instabilitäten perpetuieren. Dass die Debatten aus den Non-Papers sofort einen konkreten und leider negativen Widerhall in der Region erzeugen, zeigt das Aufblühen von gefährlichen nationalistischen Ideen und Instinkten auf dem Balkan in letzter Zeit.

Gefährliche Spirale

Rund um den Jahrestag des Genozids in Srebrenica wurde noch einmal deutlich, wie stark Revisionismus und Genozidleugnung den Prozess der Vergangenheitsbewältigung vergiften und Versöhnung verunmöglichen. Als der scheidende Hohe Repräsentant für Bosnien, Valentin Inzko, zuletzt ein Gesetz gegen die Genozidleugnung verabschiedete, gingen die Wogen hoch. Milorad Dodik, der starke Mann in der Republika Srpska, drohte mit der Sezession der kleineren bosnischen Entität aus dem gemeinsamen Staat. Zwischen Serbien und dem Kosovo befinden wir uns in der Phase eines offenen Schlagabtausches zwischen Aleksandar Vučić und dem neuen kosovarischen Premier, Albin Kurti. Auf neue und prinzipientreue Politik aus Pristina antwortet Serbiens Innenminister Vulin mit Fantasien über eine „serbische Welt“, die man unschwer als Metapher für Großserbien enttarnen kann. Vučić selbst geizte zuletzt nicht mit auf sozialen Medien geposteten militärischen Drohgebärden.
Das größte Problem derzeit liegt in einer gefährlichen Eskalationsspirale, die sich – so hat es zumindest den Anschein – der Kontrolle und der Steuerung des Westens, der EU und der USA, teilweise entzieht. Dazu kommt die keinesfalls proeuropäische Rolle mächtiger geopolitischer Player wie China und Russland, die sich auf dem Balkan als Konkurrenz zum Westen positionieren, durchaus mit Sympathien mancher autoritär agierenden Politiker des Balkans.
Auch 2021 muss eines unmissverständlich gesagt werden: Der Erweiterungs- und Reformprozess der EU auf dem Westbalkan war vom Beginn an auch der Versuch, die Region zu demokratisieren und zu stabilisieren. Die akute Schwäche dieser vertrackten Verfahren führt automatisch zu demokratiepolitisch instabilen Verhältnissen und zum Verlust des Einflusses der EU und des Westens auf dem Balkan.

Die EU-Kommission hat in den letzten Jahren immer wieder versucht, mit adaptierten Strategien dem EU-Erweiterungs- und damit auch dem Demokratisierungsprozess auf dem Balkan neues Leben einzuhauchen. In Wirklichkeit haben kosmetische Veränderungen jedoch weder den Gesamtprozess verbessert noch das Problem des mangelnden politischen Interesses gelöst. Nach wie vor scheint die Einschätzung der Reformfortschritte seitens der EU und ihrer Mitgliedstaaten eher eine politische Frage zu sein als eine objektive Beurteilung tatsächlicher Reformanstrengungen. Nur selten wird etwa auf offensichtliche Vorteile für die Bevölkerung des Westbalkans durch die Annäherung an die EU abgezielt, wie etwa auf die Verringerung der Einkommensunterschiede im Vergleich zum EU-Schnitt, Reisefreiheit oder Stärke und Transparenz der Institutionen. Es überrascht nicht, dass einige Machthaber in der Region diese europäische Zurückhaltung und fehlende Klarheit als Einladung verstehen, ihre nationalistischen Spielchen und ihr autoritäres Regieren beizubehalten bzw. weiter auszubauen.
In einem negativen Szenario für den Westbalkan, in dem der Einfluss der EU immer geringer wird und Fantasien über neue ethnische Grenzen immer bedeutender, sind neue Konflikte nahezu programmiert und können die Desintegration der gesamten Region vorantreiben. Die in den Non-Papers formulierten Zukunftsszenarien sind leider nicht als reine Science-Fiction abzutun. Nationalismus und politische Instrumentalisierung von Ängsten sind Alltag und werden zum Teil von Kräften sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU, inklusive rechtspopulistischer paneuropäischer Allianzen, unterstützt. Halbautoritäre politische Eliten und scheinbare Pragmatiker an den Machthebeln schüren ethnische Konflikte, um von der gesellschaftlichen Polarisierung zu profitieren und von ihren eigenen korrupten Praktiken abzulenken.

Auf den ersten Blick wirken die ethno-territorialen und auf einem Nationalismus des 19. Jahrhunderts beruhenden Ideen aus den besagten Non-Papers zu radikal, um umgesetzt zu werden. Selbst Grenzkorrekturszenarien in Bosnien und Herzegowina und im Kosovo von geringerem Ausmaß kommen aber schon einem Spiel mit dem Feuer gleich. Und sie sind genau das Gegenteil dessen, wofür die europäische Integration steht, nämlich die Überwindung von Konflikten, Grenzen und jede Form von Nationalismen.

Radikal falsches Denkmuster

Regional florierende nationalistische Fantasien folgen einem radikal falschen Denkmuster. Sie geben vor, sich um die politische Stabilität zu sorgen, während sie gleichzeitig Rückschritte bei Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit in den einzelnen Staaten der Region völlig ignorieren. Damit spielen sie den autoritären Kräften der Region in die Hände. Über einen zu langen Zeitraum schon hat leider auch die EU für das Ziel einer scheinbar stabilen Region die eigenen Grundsätze kompromittiert. Das rächt sich nun – dem EU-Erweiterungsprozess droht ein langsamer Tod.
Was heute mehr denn je gebraucht wird, sind keine Ideen aus dem 19. Jahrhundert, sondern ein starkes Bekenntnis der EU und ihrer Mitgliedstaaten zu ihrer Vertiefung und Erweiterung sowie ein offensiveres Eintreten für ihre Werte und die Demokratisierung auf dem Westbalkan.

Im Namen des WB2EU-Netzwerks www.wb2eu.eu